Henning Ahrens: "Mitgift"

Ein Patriarch übelster Sorte

11:42 Minuten
Henning Ahrens steht auf einer Wiese, er hat dunkle Haare, trägt eine weinrote Lederjacke, dunkelblauen Pullover, und eine graue Hose. Im Hintergrund ist dichter Wald zu sehen.
Henning Ahrens hat für sein Buch auf Tagebücher und Briefe seiner Großvaters aus der Kriegsgefangenschaft zurückgegriffen: © Gabrielle Strijewski
Henning Ahrens im Gespräch mit Joachim Scholl |
Audio herunterladen
In "Mitgift" erzählt Henning Ahrens die Geschichte einer Bauernfamilie über sechs Generationen hinweg. Im Zentrum steht Wilhelm Leeb, überzeugter Nazi und herrischer Patriarch. Reales Vorbild für Leeb sei sein eigener Großvater, sagt Ahrens.
Henning Ahrens wurde bekannt durch drei Romane, die alle in der deutschen Provinz angesiedelt waren, es gibt sogar ein Provinzlexikon von ihm. Sein neuester Roman "Mitgift" steht auf der Longlist zum deutschen Buchpreis und er ist ohne Zweifel das persönlichste Werk des 56-Jährigen, der auf einem Bauernhof in Niedersachsen groß geworden ist, dann studiert und promoviert hat und heute Autor und Übersetzer ist.
Ahrens bleibt auch hier dem Thema Provinz treu, erzählt aber von und aus der Geschichte der eigenen Familie: Die Handlung umfasst sechs Generationen, im Mittelpunkt steht die seines Großvaters, also die Generation, die die Nazizeit und den Krieg erlebt hat.

Der Patriarch auf dem Hof

Wilhelm Leeb senior heißt der Protagonist im Roman: Ein wahrer Patriarch, der die Familie und seinen Hof mit härtester Hand regiert, ein Nazi, bei dem im Kriegseinsatz weder zerbombte Städte noch niedergebrannte Dörfer oder Panzerwracks und Tote die Stimmung trübten, denn er sah sich als Teil eines gewaltigen historischen Ereignisses. Als er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, hat er keine Schuldgefühle, und gleich vom ersten Tag nach seiner Rückkehr müssen wieder alle parieren.
"Diese Figur habe ich natürlich für den Roman sehr stark zugespitzt", sagt Ahrens. "Mitgift" sei ein fiktives Werk, das zum Teil auf Tatsachen beruhe.
"Aber wenn man dann zu schreiben beginnt und wenn sich die Geschichte entwickelt, dann gewinnt das seine eigene Dynamik, dann gewinnen auch diese Personen eine Eigendynamik und lösen sich ein Stück weit oder auch ein großes Stück von den Vorbildern."
So sei es auch bei der Figur des Wilhelm Leeb senior gewesen. "Ich habe den schon in Teilen nach meinem Großvater modelliert: Der war tatsächlich ein Nazi, er war auch ein sehr herrischer, ehrgeiziger Mensch. Aber er hatte selbstverständlich auch ganz andere Seiten."
Er selbst und sein Bruder hätten, so berichtet Ahrens, oft heimlich bei ihm Fernsehen geschaut und seien dann mit Salzstangen und Jaffa-Keksen versorgt worden.

Briefe aus der Kriegsgefangenschaft und Tagebücher

Der Großvater habe viel Schriftliches unterlassen, berichtet Ahrens von seinen Quellen: "Ein ganzes Konvolut von Briefen aus seiner Kriegsgefangenschaft, drei Tagebücher, eins davon aus dem Jahr 1944."
Für diese Generation im Buch habe er also auf sehr viel Material zurückgreifen können und damit auch in einigen Kapiteln gearbeitet, sagt Ahrens. "Je weiter man zurückgeht, desto schwieriger wird das natürlich, jedenfalls in einer Familie wie der meinigen."
Im Ganzen gesehen beruhe der Roman, "sagen wir mal zu maximal 20 Prozent auf Tatsachen", überschlägt Ahrens. "Und den Rest, den habe ich als Autor erfunden."
Während an seinen früheren Werken auch die literarische Fantastik hervorgehoben wird, die eine Art magischen Resonanzraum schaffe, ist "Mitgift" anders geschrieben: "Es war sehr schnell klar für mich, dass ich diesen Stoff auf eine realistische Art erzählen muss."
Alles andere wäre überflüssiges Beiwerk gewesen, meint Ahrens. "Wenn ich da ein sprachliches oder ein erzählerisches Feuerwerk abgebrannt hätte, dann hätte das nicht wirklich funktioniert."

Bruch mit der Familiengeschichte

Das Thema habe ihn schon lange beschäftigt, das Buch sei das Ergebnis des dritten Anlaufs, erklärt Ahrens weiter und reflektiert auch über sein Leben. Seine Generation stelle einen Bruch mit der Familiengeschichte dar: "Es war eine vollkommen andere Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind."
Sein Bruder und er seien auch die erste Generation gewesen, wo der Erwartungsdruck, den Hof fortzuführen, nicht mehr so hoch gewesen sei, obwohl er selbst diese Pflicht auch noch irgendwie verspürt habe.
"Mein Vater hat mich dann irgendwann mal beiseitegenommen und hat mir gesagt, man muss das nicht unbedingt machen. Das war natürlich für mich eine große Erleichterung", sagt er. "Ich gehöre tatsächlich zur ersten Generation, die da rausgehen konnte."
Literarisch kehrt er allerdings auch hier wieder in die Provinz zurück. Er vermutet einen Grund dafür in eben dieser Lebensgeschichte: "Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dieser Welt, aus der ich stamme, und der Welt, in der ich mich jetzt bewege, als Autor, Übersetzer und so weiter", sagt Ahrens.
"Und deshalb habe ich, glaube ich, immer wieder auch das Bedürfnis, diese beiden Welten zu vereinen. Also ich schreibe als Autor über die Welt, aus der ich stamme, und das ist natürlich auch ein Versuch, das z u verschmelzen."
(mfu)

Henning Ahrens: "Mitgift"
Klett-Cotta, Stuttgart 2021
352 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema