Meister der Farben und Vereinfacher der Malerei
Grelle Farben, einfachste Linien: Die Werke von Henri Matisse lösten 1905 einen Skandal aus, Kunstkritiker nannten ihn einen "Wilden". Ziel seines Schaffens war, die Malerei auf das Wesentliche zu reduzieren. Vor 150 Jahren wurde Matisse geboren.
Auf der weißen Kachelwand im Innern der Rosenkranzkapelle in Vence sind die Figuren des heiligen Dominikus und der Maria mit dem Christuskind mit einem dicken schwarzen Pinselstrich lediglich in ihren groben Umrissen skizziert. Gesichter und weitere Details bleiben ausgespart. Gegenüber fällt das Tageslicht durch schmale Fenster hinein, die in den drei reinen Farben Gelb, Grün und Blau leuchten. Autor dieses Gesamtkunstwerks, das 1952 eingeweiht wurde, ist Henri Matisse, der als über 80-Jähriger rückblickend feststellte:
"Diese Kapelle ist für mich das Ergebnis eines Lebens voller Arbeit. Trotz ihrer Unvollkommenheit betrachte ich sie als mein Meisterstück, als eine Anstrengung, die das Ergebnis eines Lebens ist, das ganz der Wahrheitssuche gewidmet war."
Kunststudium statt Anwaltskarriere
Matisse, geboren am 31. Dezember 1869 im nordfranzösischen Le Cateau-Cambrésis, war bereits 21 Jahre alt, als er sich gegen eine Karriere in einer Anwaltskanzlei und für ein Kunststudium entschied. Prägend sollte für ihn der Unterricht an der Pariser Ecole des Beaux-Arts bei dem symbolistischen Maler Gustave Moreau werden, der ihm prophezeite:
"Sie werden die Malerei vereinfachen. Sie werden damit nicht die Natur vereinfachen. Die Malerei wird nicht mehr existieren."
Matisse orientierte sich zunächst am Impressionismus und kopierte im Louvre nach den alten Meistern. Bei seinen Besuchen in St. Tropez entdeckte er die leuchtenden Farbtöne des Pointillisten Paul Signac. Wie sich der Bildaufbau weniger durch die Zeichnung als vielmehr durch die Farben konstruieren ließ, das hatte er bereits in den Werken von Paul Gauguin, Vincent van Gogh und Paul Cézanne studiert. Nach einem Sommer in Collioure mit André Derain und Maurice de Vlaminck lösten seine dort entstandenen, von greller Farbigkeit und pastosem Pinselstrich geprägten Werke einen Skandal im Pariser Herbstsalon 1905 aus.
Eine folgenreiche Begegnung
"Man hat dem Publikum einen Topf Farbe ins Gesicht geworfen!", wetterte der Kunstkritiker Camille Mauclair, und Louis Vauxcelles betitelte Matisse und seine Mitstreiter kurzerhand als "Fauves", die "Wilden". Die amerikanischen Kunstmäzene Leo und Gertrude Stein kauften einige fauvistische Bilder von Matisse und gehörten zu seinen treuesten Sammlern. In ihrem Salon traf sich regelmäßig die Pariser Avantgarde.
Matisse lernte hier 1906 Pablo Picasso kennen. Eine folgenreiche Begegnung wie Claudine Grammont, Direktorin des Matisse-Museums in Nizza unterstreicht:
"Die beiden rivalisierten miteinander, aber durchaus im positiven Sinne. Sie haben sich ständig bei ihrem Kunstschaffen beobachtet. Es entstand eine Art stiller Dialog zwischen ihnen. Picassos Werke spiegelten den Einfluss von Matisse und umgekehrt."
Suche nach künstlerischer Erneuerung
Mit dem Kubismus und seiner Zerstörung der Formen liebäugelte Matisse nur sehr kurz, galt sein ganzes Interesse doch der Farbe. Hierfür brachte er aus Nordafrika orientalische Requisiten wie Teppiche und Kacheln mit. Sie dienten seinen Frauenakten oder lasziv inszenierten Odalisken als dekorative Hintergründe. Doch Matisse plagten immer auch Zweifel an seiner Kunst:
Claudine Grammont: "1930 trat er die weite Reise nach Tahiti an. Sein künstlerisches Schaffen war damals auf einem Tiefpunkt angelangt. Seine Kunst brauchte eine Erneuerung, die er in der Südsee zu finden hoffte. Anfang der 1940er-Jahre schuf er dann seine Scherenschnitte. Jetzt tauchten erstmals die Formen auf, die er in der Südsee vor allem in den Lagunen unter Wasser entdeckt hatte."
Claudine Grammont: "1930 trat er die weite Reise nach Tahiti an. Sein künstlerisches Schaffen war damals auf einem Tiefpunkt angelangt. Seine Kunst brauchte eine Erneuerung, die er in der Südsee zu finden hoffte. Anfang der 1940er-Jahre schuf er dann seine Scherenschnitte. Jetzt tauchten erstmals die Formen auf, die er in der Südsee vor allem in den Lagunen unter Wasser entdeckt hatte."
Vereinfachung der Malerei
Bei seinen Gouaches découpées, mit denen er künstlerisches Neuland betrat, schnitt er direkt die Formen stilisierter Korallen, später auch weiblicher Akte, Blumen und Vögel aus zuvor eingefärbtem Karton heraus und komponierte sie auf weißem Grund. Eine Arbeit, die er im Liegen ausführen konnte, denn nach einer schweren Krankheit Ende der 40er-Jahre war er meist ans Bett gefesselt. Tatsächlich hatte Matisse die Malerei mit seinen Scherenschnitten extrem vereinfacht.
"Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, von einer Kunst, die für jeden ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physischen Anstrengungen erholen kann."
Mit seinen Scherenschnitten und der Schaffung der Rosenkranzkapelle in Vence schien sich Henri Matisse diesen Traum bis zu seinem Tod in Nizza 1954 erfüllt zu haben.