Henriette Roosenburg: "Morgen wartet eine neue Welt. Frühling 1945 – der lange Weg nach Hause"
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Aufbau Verlag, Berlin 2020
320 Seiten, 22 Euro
Wanderung durch ein gespenstisches Deutschland
05:41 Minuten
Die Niederländerin Henriette Roosenburg saß wegen Widerstands gegen die Nazis in Sachsen in Gestapohaft. Erst kurz vor ihrer Exekution konnte sie befreit werden. "Morgen wartet eine neue Welt" ist ein eindrückliches Zeugnis deutscher Verbrechen.
Die amerikanische Erinnerung an die Shoah und das deutsche Lagersystem hat seine ganz eigene Geschichte. Direkt nach dem Krieg waren es oft Nichtjuden, die davon erzählten, journalistisch oder fiktionalisiert. Die Vernichtungslager wurden dabei oft nur gestreift, der Fokus lag auf Widerstand und Hoffnung.
Viele dieser zu ihrer Zeit sehr erfolgreichen Bücher sind heute vergessen, und von Forschung und Diskurs eh überholt. Doch einige von ihnen sind trotzdem noch eindringliche und auch überraschende Zeugnisse: wie "Morgen wartet eine neue Welt" der niederländisch-amerikanischen Journalistin Henriette Roosenburg, 1956 im "New Yorker" erschienen, ein Jahr später als Buch ein Bestseller in den USA. Aktuell wird es in verschiedenen Ländern und Sprachen neu aufgelegt, dabei auch zum ersten Mal auf Deutsch, sensibel übersetzt von Hans-Christian Oeser.
In letzter Minute gerettet
Roosenburg war als junge (nichtjüdische) Frau im niederländischen Widerstand als Fluchthelferin und Spionin aktiv. Bei Kriegsende saß sie in brutaler Gestapohaft im sächsischen Zuchthaus Waldheim. Sie und ihre niederländischen Genossinnen waren "Nacht und Nebel"-Häftlinge – politische Gefangene, die zu jedem Zeitpunkt mit ihrer heimlichen Exekution rechnen mussten. "Zip" (so ihr Tarnname) und die anderen werden in quasi letzter Minute von der Roten Armee gerettet. Das Buch erzählt von diesem Moment der Befreiung, den ersten vorsichtigen Schritten in der Freiheit und dem strapaziösen Weg zurück in die Niederlande.
Die Gruppe um Zip wandert, fast wie in einem Road Movie, durch ein gespenstisches Sachsen, mal zu Fuß, mal auf einem kleinen Boot. Unscharfe Gefahr liegt in der Luft. Der Krieg ist offiziell vorbei, aber alte Nazis können sich überall verstecken. Und auch "die Russen" sind nicht immer hilfsbereit, manchmal sogar eine echte Bedrohung für die jungen Frauen. Zip entkommt nur durch List und Glück einer Vergewaltigung.
Roosenburg nannte ihren Bericht "Roman", auch wenn die Personen und Erlebnisse authentisch sind. Vielleicht, weil ihr das die Möglichkeit für nachdenkliche und weitsichtige Dialoge gab, in denen ausgedrückt wird, was befreite Häftlinge und Überlebende 1945 eher spürten als sagen konnten: Sind denn alle Deutschen schuldig oder nur die Nazis? Ist die Rote Armee Befreierin oder etwas anderes? Und, wie Dries, der einzige Mann der kleinen Gruppe, fragt: "Glaubst du, die Dorfmädchen wären sicher, wenn die Eroberer zufällig niederländische Soldaten wären?" Subtil kontrastiert der Text immer wieder Weiblichkeit und Männlichkeit mit Nationalität als vermeintliche "Erklärungen" und weicht meistens die Grenzen dieser Konzepte auf.
Mental war Entkommen kaum möglich
Die Gruppe kämpft mit den (in Roosenburgs Erzählung vor allem körperlichen) Folgen der Haft und mit Hunger. Fast wichtiger als Nahrung aber sind Informationen: Wo stehen die Russen, wo die Tommys, wie bekommt man Passierscheine, was muss man sagen, um im DP-Lager sicher unterzukommen? Trotz des hoffnungsvollen Titels fängt "Morgen wartet eine neue Welt" vor allem die chaotische, postinfernalische Gegenwart dieser Frühlings- und Sommermonate 1945 ein, als Gerüchte Leben retten konnten.
Das Cover der Erstausgabe von 1957 zeigte, dem Originaltitel "The Walls Came Tumbling Down" folgend, eine eingestürzte Mauer, hinter der idyllisches Grün liegt, und tatsächlich endet Roosenburgs Buch mit einem Moment echten Glücks. Heute wissen wir, dass kaum ein Häftling die Mauern der Gestapogefängnisse und KZ je wirklich mental verlassen konnte. Für die Überlebenden der Vernichtungslager, von denen im Buch kaum mehr als geflüstert wird und die selbst teils erst Jahrzehnte später sprechen konnten, wollten oder durften, galt das erst recht. Dieses Wissen macht den eigentlich oft jugendlich-leichtfüßigen Bericht zur schmerzhaften, aber anregenden Lektüre.