Henry Hoke: "Ganz wie ein Mensch"
© Eisele Verlag
Mit den Augen eines Pumas
06:46 Minuten
Henry Hoke
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
Ganz wie ein MenschJulia Eisele Verlag, München 2024192 Seiten
22,00 Euro
Was würde ein Puma zu unseren modernen Lebensproblemen sagen? Diese Frage durchzieht den tragisch-komischen Roman von Henry Hoke. Sein Gedankenprotokoll eines Pumas zeigt originell, warum die Kommunikation zwischen Tier und Mensch so oft schiefgeht.
Schon der erste Satz lässt einen aufhorchen: „Ich habe noch nie einen Menschen gefressen, aber heute könnte es so weit sein.“
Was für ein Einstiegssatz! Damit ist sofort klar: Hier spricht kein handelsüblicher Erzähler, sondern jemand, der unsere Welt aus einer völlig anderen, archaischen Friss- oder Stirb-Perspektive betrachtet. Oder genauer gesagt: Ein wilder Puma, der sich ausgerechnet in einem Park nahe der Film-Traumstadt Los Angeles niedergelassen hat.
Was für ein Einstiegssatz! Damit ist sofort klar: Hier spricht kein handelsüblicher Erzähler, sondern jemand, der unsere Welt aus einer völlig anderen, archaischen Friss- oder Stirb-Perspektive betrachtet. Oder genauer gesagt: Ein wilder Puma, der sich ausgerechnet in einem Park nahe der Film-Traumstadt Los Angeles niedergelassen hat.
Ein wilder Puma in den Bergen Hollywoods
„Ich weiß, ich lebe unter dem Hollywood-Schriftzug, weil die Wanderer (…) fragen: Von welchem Buchstaben würdest du dich runterstürzen. Ich war schon mal oben, aber nachts gehen die Lichter an, und man ist von überall zu sehen, also bleibe ich hier unten.“
Getarnt in der Sandfarbe der Landschaft bleibt der Puma von den meisten Parkbesuchern unentdeckt – und hört so ungewollt ihre Gespräche mit, die Hoke als inneren Monolog wiedergibt. Dieses tierische Gedankenprotokoll liest sich zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, weil es in sehr einfacher, reduzierter Sprache und ohne Interpunktionszeichen abgefasst ist.
Spannend wird dieser tierische Monolog dann aber nicht nur, weil Hokes Puma ein paar Bösewichten auf die Spur kommt, sondern vor allem deshalb, weil man sich in vielen der belauschten Gespräche wiedererkennt, nur eben gespiegelt aus Raubtier-Sicht.
Unsere heutigen Psycho-Probleme aus Puma-Sicht
Denn wie wir alle machen sich auch die Parkbesucher im Roman ständig Gedanken über die Bedeutung und den Sinn ihres Lebens – und driften dabei regelmäßig aus der Gegenwart ab. Diese von Philosophen wie Friedrich Nietzsche lange als Kennzeichen menschlicher Überlegenheit gepriesene Reflexionsfähigkeit wird bei Hoke nun radikal entzaubert, weil sie auf den im Hier und Jetzt verankerten Puma vollkommen unsinnig wirkt.
Sind die Wanderer doch oft so sehr mit dem Nachgrübeln über ihre Lebensprobleme beschäftigt, dass sie ihre Umgebung und die akute Gefahr gar nicht wahrnehmen. Aus Raubtier-Perspektive ein unverzeihliches Ignoranz-Verhalten im Überlebenskampf. Was bei Hoke dann gleich mehrfach ins Absurd-Komische kippt. Besonders dann, wenn die Ausflügler auch noch mit ihrem angeblichen Einfühlungsvermögen prahlen:
„Ich kann gut zuhören, sagt der Mann, und ich sehe bei ihm ist eine Frau, die neben ihm wandert. Der Mann sagt: Wirklich ganz im Ernst, ich will dir zuhören. Du kannst mit mir über alles reden. Über uns oder mich oder das Abendessen, über alles. Ich verspreche dir, ich höre bloß zu, ohne dich zu unterbrechen oder vorgefertigte Meinungen zu haben. Ich höre einfach, ich kann das.“
Blind für die wahren Gefahren der Zeit
Was für ein treffendes, irrwitziges Bild für unsere zwar dauerkommunizierende und psychologisch hochgetunte, aber doch so oft aneinander vorbeiredende Ego-Gesellschaft kurz vor dem Öko-Kollaps! Denn mal ehrlich: Benehmen wir uns nicht alle gerade irgendwie so wie der Mann im Park? So sehr er auch beteuert, ein aufmerksamer Zuhörer zu sein, so rücksichtslos textet er doch seine Partnerin zu – und übersieht dabei völlig die tödliche Gefahr eines Raubtiers in seinem Nacken.
Es gibt in Hokes Puma-Protokoll mehrere solcher bizarr komischen Szenen einer grundsätzlichen Kommunikationsstörung zwischen Tier und Mensch. Zumal auch umgekehrt alle Versuche des Berglöwen scheitern, sich als Rudelmitglied bei ein paar Obdachlosen anzudienen. Verstehen die Outlaws doch zum Beispiel gar nicht, dass ein vor ihnen abgelegter, angefressener Kojoten-Kadaver ein Freundschaftsbeweis des Pumas ist. Statt mit Dankbarkeit reagiert der Beschenkte darum zur Überraschung des Raubtiers mit panischer Wut.
Lauter tragische Missverständnisse
„Der junge Mann hat eine Flasche in der Hand und steht auf der anderen Seite von dem gefressenen Kojoten. (…) Böse Katze, sagt er. Er wirft die Flasche, und sie trifft mich an der Vordertatze. Ich kippe zur Seite, und er läuft den Hügel rauf (…) und guckt zu mir runter, um zu sehen, ob ich auch wirklich gehe.“
Es sind solche verstörten Bemerkungen des Pumas, die sein Protokoll so tragisch-komisch machen. Mit geradezu kindlich-naivem Blick verfolgt er das in seinen Augen rätselhafte Treiben der Menschen und begreift einfach nicht deren Motivation. Und je länger man ihn lesend begleitet, desto mehr versteht man seine Ratlosigkeit. Als Raubtier jedoch kennt der Puma weder Wertung noch Moral. Das Urteil über das von ihm protokollierte Menschenverhalten wird von daher – und das ist sozusagen der Kniff von Hokes Roman – an die Leserschaft ausgelagert, die naturgemäß einen Wissensvorsprung besitzt.
Anders als der Puma weiß man als Leserin beispielsweise, wie verbrecherisch das Abfackeln eines Obdachlosen-Camps ist. Oder man ahnt, dass nicht unbedingt Tierliebe dahintersteckt, wenn eine esoterische Millionärstochter die Wildkatze schließlich adoptiert:
„Sie streicht mir über den Rücken und erzählt mir von meinem charakteristischen Genickbiss. Ich fühle mich mehr als je zuvor wie ein Mensch, weil ich anfange, mich zu hassen.“
„Sie streicht mir über den Rücken und erzählt mir von meinem charakteristischen Genickbiss. Ich fühle mich mehr als je zuvor wie ein Mensch, weil ich anfange, mich zu hassen.“
Zweifelhafte Zähmung zur Schoßkatze
Die Puma-Halterin hat dann zwar viel über ihr neues, exotisches Haustier gelesen. Die wichtigste Information aber blendet sie bezeichnenderweise aus. Nämlich jene, dass ein Raubtier niemals zahm werden kann, ohne seine Instinkte zu verleugnen. Entsprechend früh ahnt man, dass Hokes großartige Tier-Parabel ohne Happy End bleiben muss, da sich auch hier einmal mehr der Mensch als das wahre Problemtier des Planeten erweist. Zugegeben: Keine neue Erkenntnis. Aber eine, die man so originell in Raubtiersprache verpackt noch nicht gelesen hat.