Henry Keazor: "Raffaels Schule von Athen. Von der Philosophenschule zur Hall of Fame"
Wagenbach Verlag, Berlin 2021
304 Seiten, 32 Euro
Ein Bild in tausend Wandlungen
06:43 Minuten
Die ikonische „Schule von Athen“ von Raffael wurde im Laufe der Jahrhunderte tausendfach adaptiert, imitiert und immer wieder neu interpretiert. Der Kunsthistoriker Henry Keazor schildert das Phänomen nun ausführlich in einer Studie.
Den Spuren von Raffaels "Schule von Athen" - einem von vier Wandbildern, das sich in der Stanza della Segnatura, der einstigen Privatbibliothek des Papstes im Vatikan in Rom, befindet - geht Kunsthistoriker Henry Keazor in seinem neuen Buch gleichen Titels nach. Papst Julius II. hatte 1509 den sechsundzwanzigjährigen Raffael mit der Ausgestaltung des Raumes beauftragt. Zwei Jahre später vollendete der aus Urbino stammende Maler mit der "Schule von Athen" eines seiner Meisterwerke.
Von christlichen Neuinterpretationen ...
Mit detektivischem Gespür hat der in Heidelberg Kunstgeschichte lehrende Keazor in seiner opulent aufgemachten und akribisch recherchierten Studie eine überwältigende Zahl an Bildern zusammengetragen, die seit dem 16. Jahrhundert den Dialog mit Raffaels Bild gesucht haben.
Immer wieder adaptierten Künstler ganz unterschiedlicher Stilrichtungen Raffaels Bildkomposition: Zwei Männer, die vor einem Torbogen zu sehen sind – es handelt sich um Platon und Aristoteles –, bewegen sich, gerahmt von Figurengruppen zu ihrer Rechten und Linken, auf eine Treppe zu.
Unverkennbar lehnt sich beispielsweise Ben Willikens in "Die Schule von Athen I und II" an das Raffaelsche Architekturensemble an. Aber während auf Raffaels Fresko insgesamt 58 Personen zu sehen sind, ist die Philosophenschule bei dem Künstler des 20. Jahrhunderts leer.
Bereits wenige Jahre nach Fertigstellung des Freskos begann, so Keazor, die künstlerische Auseinandersetzung mit der "Schule von Athen", wobei die bereits in der Frühzeit der Rezeption gefundenen Bildaussagen der ursprünglichen Bildidee – ein freier Diskurs von Philosophen mit ihren Schülern – oft genug widersprachen.
Giorgio Ghisi etwa christianisierte in seinem um 1550 entstandenen Kupferstich Raffaels Bildidee, als er den Philosophen Platon durch den Evangelisten Paulus ersetzte. Und während bei Raffael die abgebildeten Diskutierenden noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, haben die "Meisterdenker" auf Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Bild "Die Apotheose des Homer" (1827) die Wahrheit bereits gefunden.
... bis zu popkulturellen Vereinnahmungen
Aus der bei Raffael sinnstiftenden "Schule" wurde im 19. Jahrhundert eine Halle der Berühmten. Seither war es entscheidend, dass die auf den Bildern Porträtierten auch als berühmte und zu rühmende Persönlichkeiten zu erkennen waren.
Das Original diente nur noch als Staffage, das einen Wiedererkennungseffekt garantieren sollte. Renato Casaro etwa ersetzte Raffaels Entourage auf seinem Bild "100 Years of Film" (1988) durch Legenden des Films. Mit einem bemerkenswerten Effekt: Auf seinem Bild nimmt Marylin Monroe eben jenen Platz ein, der bei Raffael Platon vorbehalten ist.
Keazor ist auf genügend Belege für die These gestoßen, dass jede Gegenwart wenig feinfühlig, sondern eher vereinnahmend in der Aneignung von vergangenen Kunstwerken ist, sodass die eigentlich intendierte Bildidee unter der sich über das Bild legenden Rezeptionsgeschichte zu verschwinden droht.
"Freilegen" dürfte das entscheidende Schlüsselwort sein, das sich für Keazor als notwendige Konsequenz für die Arbeit der Kunstwissenschaft aus diesem Befund ableitet. Durchaus mit Gewinn für die Leser, da er sie über seine Arbeitsergebnisse mit einem spannend zu lesenden Buch informiert.