Herausforderungen in Zeiten der Reizüberflutung

Auf der Suche nach Gelassenheit

Zwei Bauarbeiter machen eine Pause in zwei großen Baurohren.
Wozu die ganze Hektik? Mit etwas mehr Gelassenheit kommt man auch ans Ziel. © picture alliance / dpa / Adrian Bradshaw
Von Andi Hörmann |
Hektik, Rastlosigkeit, Aktivismus und Zwang zur Optimierung beherrschen uns im Alltag. Die hohen Anforderungen an uns selbst und andere treiben uns in die innere Unruhe. Ist Gelassenheit heute eine verloren gegangene Tugend?
Geballte Fäuste zu skandierten Parolen. Die Wut im Bauch der Bürger. Auf den Straßen regt sich Unmut. Aufbegehren, Barrikaden, Revolution: Alles dokumentiert in flirrenden Videos auf YouTube:
Tocotronic "Wolke der Unwissenheit": "… Der Glanz des Kampfs der Massen auf den Straßen / Was uns eint, ist weniger Gemeinsamkeit / Als der Weg durch diese kurze Zeit …"
Die 68er-Revolten sind längst vorbei. Die gesellschaftliche Unruhen auf den Straßen verbreitet sich hinter den spiegelnden Computermonitoren - ein matter Abglanz des analogen Gezeters. Die Schusslinien sind heute digital: Shitstorm in den Kommentarspalten der Netzgemeinden, Schikane in der virtuellen Parallelwelt.
User-Kommentare:
"Sofortiger Einsatz der Schusswaffe gegen diese linken Missgeburten."
"Klatscht die Linken bis sie hinken."
"Scheiss linkes Gesocks und die Kanacken mitten drin."
"Was für Arschlöcher. Drecksbullen."
"Panzer einsetzen und die linke Scheisse platt machen!"
"Diese Hurensöhne mit ihren Wasserwerfern, fickt euch."
Rechte Wut, linke Wut. Dazwischen: Merkel aus dem TV-Duell über Maß und Mitte
Mitte gleich Gelassenheit?
Diana Kinnert: "Ich weiß nicht. Also Gelassenheit ist für mich eine Tugend."
Diana Kinnert, 1991 geboren, CDU-Parteimitglied. 2017 veröffentlicht sie das Buch "Für die Zukunft seh` ich schwarz - Plädoyer für einen modernen Konservatismus."
"Gelassenheit, das würde ich verstehen, eben indem man so ganz bei sich ist und dann die Außenwelt irgendwie passieren lässt und sich nur dort einschaltet, wo man sich bewusst einschalten möchte."

Bloß nicht aufregen und stressen!

Wiegt das Private mehr als das Politische, oder ist die Politik das Zünglein an der Waage des Privaten? Drei Passanten in der Kölner Innenstadt, geboren in den 1990er-Jahren, ganz willkürlich angesprochen, wie sie ihre momentane Lebenssituation einschätzen: gelassen oder unruhig?
"Privat, würde ich sagen: Ich denke, dass jeder so seinen Weg findet. In der Politik kann man es gerade nicht absehen."
"Ich glaube, so insgesamt die Lebenseinstellung zählt so ein bisschen, wie man die Dinge nimmt und ob man sich ständig über alles aufregt, was einem passiert."
"Ich gucke, dass ich das Beste aus allem mache - ohne mich zu sehr zu stressen."
Ruhe gegen die Wut. Vielleicht sind das Zeichen eines neuen Biedermeier inmitten der digitalen Wutwelle? Politische Grabenkämpfe weichen einer privaten Optimierung des Selbst. Längst steuern uns die Algorithmen in der digitalisierten Welt. Und wir wissen das: Wir sind Gefangene der virtuellen Entgrenzung, der Vernetzung mit der Welt, immer und überall.
Stephan Grünewald: "In früheren Zeiten waren wir sozusagen zur Gelassenheit verdammt, weil wir in einer Welt lebten, die uns nicht ununterbrochen mit Reizen, Anfragen, Likes oder Dislikes fütterte."
Früher war natürlich nicht alles besser, aber vieles anders: Die Welt war etwas langsamer und übersichtlicher. Heute ist das Ferne so nah.
Grünewald: "Mein Name ist Stephan Grünewald, ich bin Diplom-Psychologe und Mitbegründer des rheingold Instituts. Mein Schwerpunkt ist die Kulturpsychologie. Das heißt: Wie ist die Befindlichkeit der Menschen in Deutschland?"
Befindlichkeit: Die subjektive Wahrnehmung des körperlich-seelische Allgemeinzustands.
Köln, Zentrum, Nähe MediaPark. Seit 1997 gibt es das "rheingold Institut". Stephan Grünewald, Jahrgang 1960, analysiert pro Jahr mit seinem Team in mehr als 5000 Tiefeninterviews aktuelle Fragen aus Medien, Gesellschaft und Politik.

Zwischen "Auenland" und "Grauenland"

Grünewald: "Die Stimmung im Lande zeigt, dass trotz Terrorgefahr sich die Leute in ihre private Eigenwelt zurückziehen, quasi ein privates Auenland errichten und hoffen, dass sie da die Zeit anhalten können. All das, was an Schrecknissen in der Welt ist, das ist draußen im Grauenland und man versucht dieses Grauenland vom eigenen Bereich möglichst abzuspalten, was natürlich der Frau Merkel in die Hände spielt, weil sie für den Erhalt des Auenlandes, für eine permanente Gegenwart, für ein Leben ohne Vision und Risiko letztendlich steht."
Auf der einen Seite das elfenhafte "Auenland" der Gelassenheit, auf der anderen das apokalyptische "Grauenland" der Unruhe. Stephan Grünewald diagnostiziert der Gesellschaft eine ungesunde Rastlosigkeit. In seinen Worten: "Das Diktat der Unruhe".
Es piept und brummt - dauernd: das Smartphone als Stressfaktor
Es piept und brummt - dauernd: das Smartphone als Stressfaktor© imago / Westend61
Grünewald: "Gelassenheit ist ein Zustand, der den meisten Menschen Angst macht. Weil in dem Moment, wo wir loslassen, wo wir inne halten, wo wir zur Ruhe kommen, purzeln auf einmal die ganzen ungelösten Fragen, die Probleme, die Ängste auf uns ein. Das heißt: Paradoxerweise sind die Zustände, in denen wir am ruhigsten sind, die Zustände, die uns am stärksten beunruhigen. Von daher gibt es eine große Tendenz, sobald ich eine Situation der Langeweile, der Ruhe erlebe, diese Ruhe wieder zu vertreiben, in dem ich auf mein Smartphone blicke und wieder los daddle, Mails beantworte. Das heißt: Wir führen im Alltag eigentlich einen ständigen Kreuzzug gegen die Langeweile."
Es fiepst und schnurrt, summt und brummt - das Smartphone. Taktlos taktet es unseren Alltag. Es gibt kein Entrinnen.

Erschöpft oder schöpferisch?

Grünewald: "Was ich in meinem Buch ‚Die erschöpfte Gesellschaft‘ beschrieben habe, das ist immer noch aktuell. … Wollen wir im Grunde eine erschöpfte Gesellschaft sein, oder wollen wir eine schöpferische Gesellschaft sein?"
Erschöpfung durch Leistungsdruck, Erschöpfung durch Selbstoptimierung, Erschöpfung durch Google, Facebook und Co. Links, rechts, vor, zurück - ständig in Bewegung. Reizüberflutung und Unruhe allerorten. Die permanente Überforderung auf allen Kanälen. Sozusagen: Wer rastet, der rostet. Blödsinn. Die Frage für Stephan Grünewald ist:
"Wie können wir den Alltag, wie können wir eine Bildung organisieren, die nicht nur auf dieses Höher-Schneller-Weiter, die nicht nur auf Effizienz setzt, sondern die den Müßiggang, die Gelassenheit als Kulturwert auch fördert?"
Push-Meldung: Krieg, Krise, Konflikt in Land X, Y, Z. Neue Message auf WhatsApp: Okay, bin dabei. Auf Instagram zwitschern die Tweets, bei Tinder flattern die Matches. Nach rechts wischen für "gefällt mir nicht". Nach links wischen für ein "Like" in der Hoffnung auf ein "Match". Kurz noch Facebook checken: Durch die Chronik scrollen, die Timeline im Blick. Klick hier, Klick da. Ah! Einer meiner 700 Freunde postet ein altes Musikvideo der Goldenen Zitronen. Daumen nach oben!
Die Goldenen Zitronen "Positionen": "Plötzlich neue Positionen / Die Fähigkeit zur Handlung / Und aus reinen Wünschen / Springt überraschend frischer Anspruch / Die allerfeinsten Explosionen / Und überall wächst Wandlung …"
"Plötzlich neue Positionen" heißt es im Refrain dieses Popsongs aus dem Jahr 2009. Das Positionieren klingt hier nach Überforderung. Eine Sisyphos-Arbeit: Ständig Haltung beziehen. Was sind unsere Wünsche, Ängste, Träume? Der Psychologe und Geschäftsführer des "rheinhold Institut" Stephan Grünewald plädiert für einen bewussteren Umgang mit unseren nächtlichen Träumen.
Grünewald: "Ich komme zumindest durch den Traum in eine gelockerte Verhasstheit: Über den nächtlichen Traum geraten wir nicht nur in eine gelassene, sondern auch in eine durchlässigere Verfassung."
Der ständige Kampf zwischen Ruhe und Unruhe, Gelassenheit und Aufgeregtheit, er lässt sich mit allen Sinnen erfahren: Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und Sehen. Wo wird das Streben nach Gelassenheit deutlicher als in den modernen Tempeln der Selbstoptimierung? "Mens sana in corpore sano": Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Vielleicht steckt sie genau im Dazwischen - zwischen Geist, und Körper. Die Gelassenheit.

Strampeln für die Selbstoptimierung

"Mein Name ist Melanie Linden, ich bin Clubmanagerin in einem Platinum-Studio im DuMont-Carré in Köln - ein Club, der auf funktionelles Training ausgerichtet ist, mit einer über 600 Quadratmeter großen Freestyle-Fläche."
"Es ist Mittwochabend, kurz vor 19:00 Uhr, wie viele Leute sind ungefähr hier?"
Linden: "Ich glaube 60 sind ungefähr hier, wenn ich mir die Check-ins heute angucke. Unsere Mitglieder hier genießen das natürlich, gerade diese Weitläufigkeit, dass man sich eben nicht auf die Füße tritt."
Besucherin: "Ich bin hier, um mich körperlich fit zu halten, um so vom Arbeitsalltag abzuschalten und einfach ein bisschen runter zu kommen abends nach der Arbeit."
Maxi Specht trainiert am 23.03.2016 im Arkona Spa im Neptun Hotel Warnemünde (Mecklenburg-Vorpommern). Die Trainingsangebote sind auch Teil der Thalasso-Therapie, einer Therapie am Meer und mit Meerwasser. Foto: Bernd Wüstneck/ZB
Fitness ist zum Pflichtprogramm geworden.© picture alliance/dpa/Bernd Wüstneck
Besucher: "Ich habe ehrlich gesagt aus einem ganz blöden Grund angefangen. Ich war halt immer relativ schmal, bin ich immer noch, und habe irgendwann gemerkt: Eigentlich wäre ich gerne mal ein bisschen breiter, gefühlt. Und das war ehrlich gesagt so ein ästhetisches Ding."
Eine Account-Managerin für Messen und ein Bankangestellter aus Frankfurt, Jahrgang 1986 und 1991, drei- bis fünfmal die Woche treffen sie sich in diesem Fitnessstudio in der Kölner Innenstadt:
Besucher: "Das ist jetzt für mich nicht so dieser mega Ausgleich, das führt jetzt bei mir nicht zu mehr Gelassenheit. Ehrlich gesagt ist es sogar ein bisschen: Der Tag ist mehr verplant. Heute musst du aber, du warst gestern nicht! Und das kann einen schon mal ein bisschen stressen."
"Leicht muß man sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen."
Hugo von Hofmannsthal, "Der Rosenkavalier", Libretto zur gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Uraufführung: 1911.

Stress im Alter

Wilhelm Schmid: "Menschen machen sich beim Älterwerden fast noch einen größeren Stress als zuvor - unnötig. Aber es resultiert natürlich daraus, im Älterwerden nicht unbedingt etwas Gutes sehen zu können. Weil das Leben nun dahin geht, die Kräfte sind nicht mehr so da, das intensive, jugendliche Leben ist so nicht mehr da."
Wilhelm Schmid, Lebenskunstphilosoph und Autor des Bestsellers "Gelassenheit - Was wir gewinnen, wenn wir älter werden". Und ja, Gelassenheit ist nicht nur ein Alltagsphänomen: In der griechischen Antike beschreibt Gelassenheit eine philosophische Tugend.
Schmid: "Der Erfinder ist Epikur mit dem griechischen Begriff ataraxia, und das heißt wörtlich übersetzt ‚Nicht-Unruhe‘. Gelassenheit ist also auch das: Nicht-Unruhe. Aber ich möchte vorsichtiger hinzufügen: Nicht zu viel Unruhe. Weil ich finde: Ein bisschen Unruhe darf auch in der Gelassenheit sein. Unruhe ist nämlich Leben. Und Ruhe können wir haben, wenn wir tot sind. Ich stelle mir also vor: Gelassenheit ist ein Leben, in dem etwas Unruhe willkommen ist, nur halt nicht zu viel."
Grünewald: "Die heutigen Senioren stehen unter einem Vitalitätsdiktat, sie sind im Geist des ‚forever young‘ groß geworden. Und sie wollen nicht altern, sie wollen sich zeigen, dass sie immer noch mithalten können. Sie strukturieren ihren Alltag. Sie sind fast in einem gehetzten Modus."
Im Ruhestand also noch mal alles aus dem Leben raus holen. Wobei die Jugend heute laut den Umfragen von Stephan Grünewald und seinem "rheingold Institut" nicht mehr aufbegehrt.
Grünewald: "Die Jugend hat bei ihren Eltern erlebt, wie das ist, wenn man ständig in dieser besinnungslosen Betriebsamkeit ist. Also da können heute zum Teil die Alten von den Jungen lernen, weil diese Kultur des Chillens, des Dösens, die finden wir bei den 16-, 17-jährigen - aber weniger bei den Senioren."

Auf der Suche nach dem Glück

Ist es also eine reine Kopfsache: Nicht verkrampft, sondern entspannt dem Leben entgegen sehen? Vielleicht sogar noch mit Humor? Sokrates bringt Gelassenheit mit "Besonnenheit" in Verbindung.
"Besonnenheit", vom altgriechischen σωφροσύνη [sophrosýne] "Sophrosyne", bezeichnet im Unterschied zur Impulsivität, die überlegte, selbstbeherrschte Gelassenheit.
Im Philosophischen Wörterbuch von Georgi Schischkoff heißt es dazu, dass das Wort Sophrosyne eigentlich "Gesundheit des Zwerchfells" bedeutet. Das Zwerchfell, in dem der Sitz der Seele vermutet wird, das wir körperlich spüren, wenn wir intensiv Lachen. Das erklärt vielleicht auch, warum "Gelassenheit" mit "Heiterkeit" in Verbindung gebracht wird.
Wilhelm Schmid: "Heiterkeit ist nicht identisch mit Fröhlichkeit. Auch wenn ein heiterer Mensch durchaus mal fröhlich sein kann, aber er kann auch traurig sein und verliert trotzdem seine Heiterkeit nicht. Warum? Weil er grundsätzlich mit dem Leben einverstanden ist in seinen unterschiedlichen Ausformungen. Das macht die Heiterkeit. Und insofern ist sie auch sehr stark verschwistert mit der Gelassenheit, weil der heitere Mensch kann es lassen, das Leben unbedingt anders haben zu wollen. Das scheint mir heute der wichtigste Punkt zu sein, der gegen die Gelassenheit steht: Die Menschen wollen das Leben anders haben, ich meine total anders, das Leben soll ein total glückliches Leben sein, da soll nichts mehr vorkommen - nichts Negatives, Unglückliches. Aber so ist das Leben nicht und so wird es niemals sein."

Die Sorgen der Generation Y

Ein spätsommerlicher Abend in Köln: Brüsseler Platz, direkt vor der neuromanischen Kirche St. Michael. Die Atmosphäre hat etwas von Schulhof, nur mit höheren Altersdurchschnitt. Grüppchen von jungen Erwachsenen zwischen 20 und 40 Jahren unterhalten sich bei mitgebrachtem Bier, Wein und Zigaretten - sich treffen und den Abend genießen. Soziales Leben, analog. Klar, das Smartphone immer im Anschlag. Tweets und Feeds aus der Hosentasche. Dennoch passiert hier das wirkliche Leben gerade im Hier und Jetzt - Sorgen, Nöte, Ängste inklusive.
Federica: "Ich glaube die erste Sorge wäre Geld, weil man knapp bei Kasse ist, sich keinen Urlaub gönnen kann, obwohl man so viel gearbeitet hat und man braucht das einfach."
Karin: "Die Wahl Trumps, diese ganze Nordkorea-Sache … Nicht nur das, sondern auch diese ganzen Wirtschaftssachen, das sind ja alles Sachen, die einen so mit nehmen."
Gesellschaftliche Unruhe glimmt leise vor sich hin wie die Glut der unzähligen Zigaretten, die hier geraucht werden. Karin, Jahrgang 1992, hat ihren Bachelor in "International Business" in der Tasche und ist gerade auf die Suche nach einen Studienplatz für den Master.
Karin: "Ich bin jeden Tag immer auf dem neuesten Stand über die aktuellen Themen. Aber ich versuche nicht jedes Mal zu denken: Wow, das ist aber heftig, was der Trump heute gesagt hat! Oder: Das ist ja mega krass, was jetzt China wieder macht! All diese Sachen möchte ich jetzt nicht mega persönlich nehmen und an mich ran lassen, sondern sehe das einfach als großes Ganzes, was einfach passiert, weil ich kann ja persönlich sowieso nichts dagegen machen."
Das klingt schon nach Politikverdrossenheit der sogenannten Millenials: Digital Natives, gebildet und informiert, Engagement ist eine reelle Möglichkeit, Politik ist machbar. In ihrem Buch "Die heimlichen Revolutionäre – Wie die Generation Y unsere Welt verändert" aus dem Jahr 2014 beschreiben der Soziologe Klaus Hurrelmann und der Journalist Erik Albrecht die zentralen Merkmale der Generation Y im Umgang mit Krisen so:
"Die junge Generation, die ‘Generation Y‘, wie sie meist genannt wird, besteht aus ‘heimlichen‘ Revolutionären. Die strukturellen Umwälzungen, die sie initiiert, werden in ihrer Tragweite unterschätzt, eben weil sie sie nicht mit militantem Gehabe, ja noch nicht einmal mit befreiter Aufbruchsstimmung angeht. Sie lebt sie einfach, so als wären sie selbstverständlich. Die Generation Y schlägt damit eine besonders wirkungsvolle und nachhaltige Strategie ein, um die Welt zu verändern."
Karin: "Gesellschaftspolitische Themen sind bei mir ein Riesen-Thema und ich bin da auch immer an vorderster Front dabei: Wenn ich ein Thema hören, dann möchte ich mich auch immer gerne einschalten. Aber ich versuche das nicht so sehr an mich ran zu lassen, weil ich auch merke, dass mich das belastet."

Lauter Luxusprobleme?

20 Meter weiter am Brüsseler Platz in Köln sitzen Federica und Mara. Sie sind Mitte der 1990er-Jahre geboren, haben gerade Abi gemacht, waren auf Reisen und überlegen noch, was sie studieren möchten. Sie sind fünf Jahre jünger als Karin mit ihrem Bachelor in "International Business". Sorgen, Nöte, Ängste? Wie steht es bei Federica und Mara um die Gelassenheit?
Federica: "Also für mich sind es eher die privaten Dinge, die mich stressen: Familienstress, Beziehungsstress, so Sachen. Oder: Was machen ich mit meiner Zukunft? Ich hänge gerade nur rum und ich finde mich selber nicht. Ich finde das ist einfach so stressig, wenn man weiß: Man möchte was machen, aber man bekommt seinen Arsch einfach nicht hoch. Entschuldige! Das stresst einen und das zieht einen auch so runter."
Mara: "Aber es ist halt auch schwer zu vereinbaren, weil manchmal denkt man sich auch so … Weil man seine privaten Probleme in den Vordergrund stellt: Es passiert viel Größeres, worüber man sich eigentlich auf eine andere Art mehr Gedanken machen sollte."
Federica: "Das sind schon so Luxusprobleme."
Also erst mal tief durchatmen, der Musik lauschen, einatmen und wieder ausatmen, einatmen und ausatmen, einatmen und wieder ausatmen…
"Gelassenheit bedeutet nicht, sich zurückzulehnen und die Dinge los- oder fallenzulassen. Sondern sie macht es möglich, ein anderes Verhältnis zu ihnen zu finden. Das ist der eigentliche Kern der ‚stoischen Gelassenheit‘, die in den Schriften des römischen Denkers Seneca eine wichtige Rolle spielt."
Ina Schmidt, Jahrgang 1973, studierte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg und promovierte über Martin Heidegger. Sie hat die Initiative "denkraeume" gegründet. Im Psychologie-Magazin "Emotion" erschien von ihr im März 2017 ein Aufsatz über Gelassenheit:
"Das rechte Maß zu entdecken für das, was wir nicht nur wollen, sondern auch können. Damit ist kein langweiliges Mittelmaß gemeint, sondern die für mich ‚maßgeschneiderte‘ Sicht auf die Dinge – im Rahmen meiner ganz eigenen Möglichkeiten. Dieses Maß zu kennen und damit umzugehen ist der wichtigste Schritt in Sachen Gelassenheit."

Gelassenheit kommt von lassen

Dem Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid, geboren 1953, ist sie erst im Alter begegnet: Mit dem Büchlein "Gelassenheit - Was wir gewinnen, wenn wir älter werden" hat er 2014 einen Bestseller veröffentlicht. In seiner begrünten Dachgeschosswohnung unweit vom Schloss Charlottenburg treffen wir ihn zu einem kleinen Gespräche über die Gelassenheit - erst das Tischchen zurechtrücken, dann eine kurze Vorstellung, ganz gelassen:
"Ich komme ein bisschen näher."
Schmid: "Ja, das können wir problemlos justieren … Wilhelm Schmid, Philosoph, in Berlin, im Sommer, genießt seinen Urlaub, zuhause, mit Blick in den wolkenbehangenen, blauen Himmel, und mit einem Gespräch über …"
"Die Gelassenheit. Das sind schon sehr gute Voraussetzungen für Gelassenheit."
Schmid: "Über die Gelassenheit, ja."
"Einfach mal ganz banal die Frage: Was ist für Sie Gelassenheit?"
Schmid: "Gelassenheit kommt von Lassen. Das ist ganz simple. Das heißt: Immer dann, wenn wir was lassen können, können wir gelassener werden. Das ist sicher nicht der einzige Inhalt, aber das ist ein sehr wichtiger Inhalt."
"Wie ist denn die Gelassenheit für Sie ein Thema geworden?"
Ein Vater liest in Frankfurt am Main ein Buch in einer Hängematte im Günthersburgpark. Vor ihm spielt seine kleine Tochter im Schatten der Bäume.
Zeit zum Relaxen ist für viele kaum noch vorstellbar.© picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Schmid: "Ich bin 60 alt geworden. Soll ich sonst noch was sagen? Das macht Menschen in moderner Zeit nicht gelassen, zu sehen, dass das eigene Leben dahin geht, und dass doch noch so viel zu tun wäre, dass jetzt aber definitiv mehr als die Hälfte des Lebens zurück liegt als voraus. Und das hat mich schwer beunruhigt, nicht nur für diesen Tag, sondern wochenlang. Das hörte nicht mehr auf. Und dann habe ich mir überlegt: Wie kann ich gelassener werden?"
Schritt für Schritt. In zehn Punkten beschreibt Wilhelm Schmid in seinem Buch den Weg zu einer gelasseneren Lebenseinstellung.
Schmid: "Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen jünger sein und älter sein. Wenn sie jünger sind, fragen sie sich: Was soll aus mir mal werden? Und für alles, was aus ihnen werden soll, müssen sie sehr, sehr viel tun. Wenn sie älter sind, können sie zurück blicken und sagen: Das ist aus mir geworden, jetzt ist da nicht mehr so viel zu tun. Deswegen ist es deutlich schwieriger, gelassen zu sein, wenn man jung ist als gelassen zu werden, wenn man älter ist. Leider machen viele der älteren davon keinen Gebrauch und stürzen sich noch in eine Unruhe, nach dem Motto: Ich habe mein Leben bisher nicht gelebt, jetzt muss ich die letzte Gelegenheit wahrnehmen."
"Wie steht es denn um die Gelassenheit?"
Schmid: "Gut. Es scheint mir, dass in diesem Land, in dem wir leben, Deutschland, mehr Gelassenheit vorhanden ist als jemals in seiner Geschichte. Die Menschen springen nicht gleich im Viereck, wenn etwas Problematisches passiert. Nehmen wir den Terroranschlag am Breitscheidplatz: Das hat nichts bewirkt, von dem, was der Verursacher sich vielleicht erhofft hat, dass die Menschen in Panik im ganzen Land umher laufen, Panik vor diesen Islamisten und letzten Endes Unruhe anstiften. Nichts davon ist passiert, gar nichts. Die Menschen sind nicht in übermäßiger Unruhe über ihr Leben - in relativer, ja: Jeder sieht den allein stehenden Koffer irgendwo sofort, und meldet das sofort weiter. Aber das ist keine panische Gesellschaft."

Auf der Suche nach dem Dialog

Zurück zu den Millenials, zurück zur Generation Y: In Köln formieren sich um den 1989 geborenen Journalisten und Lehrer für Kinder von Geflüchteten Fabio Guzzo ein Dutzend junger Politikbegeisterter: Mit enormen Engagement stemmen sie die monatliche Veranstaltungsreihe "Köln spricht". Im wesentlichen geht es um eine gelassene Gesprächskultur. Fabio Guzzo ist Gründer und Vorstandsvorsitzender von "Sprich e.V.":
Guzzo: "Wenn du gelassen in eine Sache gehst und eben nicht den anderen angreifen möchtest, sondern erst mal versuchen möchtest, seine Position zu verstehen - dafür ist Gelassenheit die Basis."
Eine Art Speakers' Corner: "Köln spricht"
Eine Art Speakers' Corner: "Köln spricht"© Andi Hörmann
Der gemeinnützige Verein "Sprich e.V." veranstaltet deutschlandweit politisch-gesellschaftliche "Speakers‘ Corner", um den Dialog in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft zu fördern. Jeden ersten Sonntag im Monat findet in Köln ein öffentliches "Festival der Demokratie" statt: Rund 500 Leute kommen seit März 2016 monatlich zu "Köln spricht" und diskutieren in den Sommermonaten am Aachener Weiher über AfD, Kapitalismus, Demokratie und die Frage: Was macht ein gutes Leben denn eigentlich aus?
Zwischen Impulsvorträgen und Diskussionsrunden gibt es Live-Musik. Fabio Guzzo und Lisa Hofmann vom Organisationsteam bei "Köln spricht" erzählen kurz vor Beginn der Veranstaltung, wem und welcher Idee sie mit ihrem Projekt eine Stimme geben möchten:
Hofmann: "Wir vermissen ganz konkret Plattformen für Austausch auf Augenhöhe. Wir nenne das auch ‚Chillen mit Sinn‘, was wir hier machen."
Guzzo: "Ich glaube, Gelassenheit ist die Basis für eine vernünftige Diskussion. Das versuchen wir eben auszustrahlen - mit der Kultur, die wir hier anbieten, mit der Musik, die wir anbieten. Den Leuten zu vermitteln: Kommt runter, ihr seid nicht der Mittelpunkt der Welt, lasst uns miteinander ins Gespräch kommen."
Heck: "Mein Name ist Pauline Heck, ich bin 20 Jahre alt und mache einen Bundesfreiwilligendienst in einem Flüchtlingsheim. Und sonst arbeite ich sehr viel für ‚Köln spricht‘, bin da in vielen Team-Bereichen."
"Das heißt, Du engagierst Dich hier für diesen Verein."
Heck: "Ja, ich engagiere mich."
"Bist Du ein gelassener Mensch?"
Heck: "Ne, ich glaube grundsätzlich nicht. Ich glaube es gibt Menschen, die von Grund auf einfach voller Energie sind und einfach auch gar nicht mal ruhig entspannen können. Aber ich glaube es ist schon auch ein bisschen das Zeitphänomen, weil es halt so viele Möglichkeiten und Angebote gibt und viele immer so diese Angst haben, etwas zu verpassen. Was viele dann auch zwanghaft nicht gelassen macht."

Gelassenheit in der Politik?

Ortswechsel: Berlin, Rosenthaler Platz, Business-Kiez der ambitionierten und erfolgreichen Gründerszene. Mittendrin eine junge Frau in Bomberjacke, das Schild ihrer Baseball-Kappe keck zur Seite gedreht. Mit schnoddrigem Tatendrang und politischem Engagement hat es sie schon bis an die Seite von Angela Merkel geschafft. Aufnahmegerät läuft, und los geht es:
Kinnert: "Okay, soll ich anfangen? Mein Name ist Diana Kinnert, bin 1991 in Wuppertal geboren, hab einen polnischen Vater und eine philippinische Mutter und wohne derzeit in Berlin. Ich bin vor drei Jahren nach Berlin gezogen, weil ich das Büro des Bundestagsvizepräsidenten Peter Hintze geleitet habe und bin seit ungefähr zehn Jahren in der CDU - und schreibe und gründe und mache verschiedene Dinge."
Diana Kinnert, das CDU-Mitglied leitete das Büro von Bundestagsvizepräsidenten Peter Hintze
Diana Kinnert, das CDU-Mitglied leitete das Büro von Bundestagsvizepräsidenten Peter Hintze© Andi Hörmann
"Gibt es eine Politik der Gelassenheit, gibt es Gelassenheit in der Politik? Mit Politik assoziiert man ja immer Kampf - Wahlkampf."
Kinnert: "Ich glaube schon. Und zwar erst auf der zweiten Ebene. Ich glaube, dass die richtigen Streiter und die richtigen Kämpfer nämlich die Gelassenen sind. Und die, die nicht gelassen sind, das sind die Hysteriker, denen es um die eigene Person geht. Ich habe das immer wieder beobachtet: Ob das Rita Süssmuth ist, oder Heiner Geißler, also Leute, die auch in ihren eigenen Parteien strittige Meinungen eingenommen haben, die das aber mit einer Gelassenheit vertreten haben, weil es nicht um ihre eigene Person ging, weil sie manchmal schon so in der Minderheit waren, dass nichts passieren konnte. Und Leute, die wie am seidenen Faden an Macht und Mandat hängen, die strahlen auf mich immer so eine Nervosität und Hysterie aus, die ich auch nicht vertrauenswürdig finde. Und in sofern rate ich guten Politikern zu Gelassenheit, weil ich ja glaube, dass die Grundwährung in der Politik Vertrauen ist und sich Vertrauen auch viel über Gelassenheit kommuniziert."
"Diana Kinnert, eine gelassene Person?"
Kinnert: "Hoffentlich, ja."
"Wie gelingt es in Deinem Fall?"
Kinnert: "Viel schlafen und viel Angeln. Ich angle viel."
"Noch so ein Stichwort: Gesellschaftliche Unruhe, gibt es das momentan?"
Kinnert: "Vielleicht, ja. Aber ich glaube immer, dass eine gesunde Gesellschaft pluralistisch ist und viel im Austausch ist und sich auf viel bewegt und auch Reibung - Wärme - erzeugt. Ich glaube aber, was schwierig ist: Wenn eine Gesellschaft verlernt hat, miteinander zu kommunizieren, und so moralistisch übersteigert ist, dass der eine Rand dem anderen Rand nicht mehr zuhört und man keine Mitte mehr findet. Und das diagnostiziere ich gerade ein bisschen."
"Wie kommen wir da raus?"
Kinnert: "Indem wir lernen, einander zuzuhören. Würde ich vorschlagen, ja."

Zuhören und einen kühlen Kopf bewahren

Die politische Mitte: Einander zuhören? Einen kühlen Kopf behalten, trotz hitziger Debatten. In sich ruhen, trotz Protesten auf den Straßen. Die Ruhe bewahren, trotzt permanenter Informationsflut auf allen Kanälen. Mehr Mut zur Gelassenheit!
Schmid: "Ich habe schon den Eindruck, dass dieses Nachdenken über Gelassenheit und das Experimentieren damit mir sehr geholfen hat."
So ist Gelassenheit vielleicht ein heilsames Gegengift gegen unsere Ängste. Auch wenn wir sie manchmal in Zynismus und Ironie verpacken. In heiterer Gelassenheit steckt eben auch eine Portion Humor - und Provokation. Wie der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid beweist:
"Ich blicke gelassen in die Zukunft. Das Äußerste, was passieren kann, ist: Die Menschheit geht zugrunde. Aber wen interessiert das? Außerhalb der Menschheit."
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