Herfried Münkler: "Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch"
Rowohlt Berlin, Berlin 2021
718 Seiten, 34 Euro
Was Visionäre des 19. Jahrhunderts verbindet
06:07 Minuten
Der Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Herfried Münkler bringt in seinem neusten Buch drei Größen des 19. Jahrhunderts zusammen und sucht nach gemeinsamen Themen.
Marx! Wagner! Nietzsche! – Namen wie Paukenschläge, heute noch. Drei Männer, drei Köpfe, drei Weltanschauungen. Und eine Gemeinsamkeit: Erst post morten entfalteten sie ihre ganze Kraft. Doch darum geht es selten in "Marx, Wagner, Nietzsche".
Herfried Münkler verwebt die drei Lebens- und Werkgeschichten im Horizont des 19. Jahrhunderts. Er beobachtet die "Welt im Umbruch", insbesondere zwischen der 1848er Revolution, der Reichsgründung und der Uraufführung des "Ring des Nibelungen" (1876) gleichsam durch drei hellwache Augenpaare. Für Nietzsche war das "Perspektivische" eine "Grundbedingung allen Lebens", Münkler macht es zur Methode seiner Darstellung.
Die Idee – drei auf einen Streich – entstand im Restaurant Borchardt in Berlin-Mitte. Mit Marx war Münkler auch darum bestens vertraut, weil er seit Anfang 1993 die Weiterführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) betreut hat; Wagner hat ihn oft akademisch beschäftigt. Im Borchardt, im Gespräch mit dem Rowohlt-Verleger Gunnar Schmidt, kam Nietzsche dazu – wodurch, so Münkler, "das ganze Alte mit einem Mal etwas ganz Neues" wurde.
Thematische Knotenpunkte: Antike und Religion
Münklers Buch ist keine Forschungsarbeit: Wer die drei Titelfiguren bereits gut kennt, erfährt auf der Faktenebene wenig Neues. Wer sie gar nicht kennt, lernt sie nun näher kennen – jedoch nicht per betulichem Durchgang durch ihre Biographien. Münkler wählt Themen, Ereignisse, Problem-Konstellationen – er spricht von "Knotenpunkten" –, die alle drei beschäftigt haben, etwa die "Wiedergeburt der Antike".
Der fortschrittsgläubige Marx tat sie als gehobene Schnapsidee ab, während Wagner und Nietzsche gerade in der Zeit ihrer Freundschaft die Rückkehr zum Tragischen à la Aischylos, die Rehabilitierung des Dionysischen und die mythische "Wiederverzauberung" der Welt für möglich hielten – mittels deutscher Musik und Kultur.
Alle drei sind durch den "Feuer-Bach" gegangen, haben also auf die Religionskritik Ludwig Feuerbachs regiert: Nietzsche kämpfte sich zeitlebens am Christentum ab; Marx glaubte lange, ganz über Religion hinauszukommen, ließ sich jedoch im Kapital ausführlich über den quasi-religiösen Warenfetisch aus; Wagner hielt wenig vom institutionalisierten Christentum, Religion als solche jedoch für unabdingbar.
Antisemitismus und Revolution
Unverzichtbar ist natürlich der Komplex Antisemitismus. Münkler geht ihn betont ruhig an: Kontextualisierung statt Skandalisierung. Marx, der selbst aus einer jüdischen Familie kam, war rhetorisch der Unerträglichste. Er vergleiche seinen Zorn auf den "jüdischen Nigger Lasalle" – laut Münkler aber weit entfernt vom "manifesten Antisemitismus" Wagners. Nietzsche ist nicht frei von Klischees, aber nicht nur im Kreis der Drei der "Anti-Antisemit".
Und die Revolution? Marx beschwor die politisch-gesellschaftliche Revolution, Wagner die Revolution durch die Kunst, Nietzsche – jeglicher Erlösung abgeneigt – die Umwertung aller Werte. Das und mehr kommt profund zur Sprache. Allein, Marx hat von Wagner kaum und von Nietzsche gar keine Kenntnis genommen, während sich Nietzsche und Wagner nicht für Marx interessierten.
Womöglich fehlt Münklers Buch darum bei aller Gelehrsamkeit, Gründlichkeit – die Exegesen zu Wagners Opern ziehen sich über Dutzende Seiten – und historischer Tiefenschärfe das restlos Bezwingende. Durch den Perspektivismus erscheint die (Gedanken-)Welt im Umbruch tatsächlich plastisch, manchmal aber wirkt "Marx, Wagner, Nietzsche" wie ein Werk nach der Rezeptur 'aus drei mach eins'.