Hergé
Ausstellung im Pariser Grand Palais
28.10.2016 bis 15. Januar 2017
Der Meister des Comic-Ateliers
Normalerweise sind die "Galeries Nationales" im Pariser Grand Palais den Alten Meistern der Kunstgeschichte vorbehalten. Dass dort nun mit Hergé ein Schöpfer von Comic-Kunst geehrt wird, ist jedoch folgerichtig: Hergé führte sein Atelier wie die Maler der Renaissance.
Ein bisschen erstaunlich ist das ja schon: Bereits vor zehn Jahren, zum 100. Geburtstag von Hergé, zeigte das Centre Pompidou eine umfassende Retrospektive. Auch in London und Barcelona gab es gerade große Tim-und-Struppi-Ausstellungen.
Doch im Pariser Grand Palais des Jahres 2017 scheint eine Comic-Kunst-Ausstellung noch unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck zu stehen. So beginnt diese große Hergé-Retrospektive nicht etwa mit Comicbildern, sondern mit Gemälden, abstrakten "Kompositionen ohne Titel" im Stil von Miro oder Dubuffet, die Hergé in den 1960er-Jahren malte.
Daneben ist ein Video zu sehen, in dem der französische Philosoph Michel Serres Hergés Werk lobt als "eines der tiefgründigsten unser Zeit".
"Wir mussten uns rechtfertigen", sagt Kuratorin Cécile Maisonneuve. "Es war wichtig, gleich am Anfang zu zeigen: Wir wollen Hergé als einen großen Künstler des 20. Jahrhunderts würdigen."
Vertreter der "klaren Linie"
Der Auftakt mit der wenig originellen abstrakten Malerei der 1960er-Jahre ist da, vorsichtig formuliert, etwas überraschend. Schließlich ist Hergé vor allem für seine "ligne claire" berühmt, die "klare Linie" der legendären Tim und Struppi-Comics: Präzise Konturen ohne Schraffuren oder Schattierungen.
Zu dieser klaren Linie, die vielen Comiczeichnern bis heute Vorbild ist, fand Hergé über viele, viele kleine Striche und Linien. Das dokumentieren in der Ausstellung sehr eindrücklich mit dem Bleistift schraffierte Vorabskizzen, die parallel zu vollendeten Comicbildern gezeigt werden. "Ich kritzle, streiche durch, radiere aus und fange von vorne an, bis ich zufrieden bin", sagte Hergé.
"Die klare Linie entsteht aus einer Vielzahl von Strichen, in denen Hergé die 'richtige' Linie identifiziert, jene, mit der er die Bewegung, die Haltung, den Gestus ausdrücken wird, die er darstellen will."
Modell der Mondrakete
Präzision war Hergé enorm wichtig. Im Grand Palais zeugt davon auch – mit Bowie-Sound und Lichtshow effektvoll in Szene gesetzt – ein dreidimensionales Modell der Rakete aus dem Tim-und-Struppi-Band "Reiseziel Mond" von 1953. Das Raketenmodell diente den Zeichnern, die für ihn in den Studios Hergé arbeiteten, als Referenz für die Bilder des Abenteuers im Weltall.
Kunsthistorikerin Cécile Maisonneuve vergleicht die Arbeitsweise der Hergé-Studios ab den 1950er-Jahren mit den Malerateliers alter Meister.
"Er erfand das Künstleratelier der Renaissance neu. Er war der Meister des Ateliers, der sich mit einer Armada von Helfern umgab. Darunter waren auch große Namen der Comic-Kunst wie Roger Leloup oder Jacques Martin. Aber es funktionierte eben nach dem Modell alter Meister."
Wobei die Assistenten meist für die Gestaltung von Bildhintergründen, Möbeln oder Fahrzeugen zuständig, während die Personen, allen voran der Held Tim, Chefsache waren.
Mit rund 450 Ausstellungsstücken – darunter auch Raritäten wie zum Beispiel Werbeplakaten, die Hergé in den 1930er-Jahren gestaltete – zeigt die Retrospektive im Grand Palais das Werk von Hergé in allen Facetten: Wie der chinesische Kunststudent Tchang den Autodidakten Hergé in die Technik asiatischer Pinselzeichnungen einführte und so das Comicalbum "Der blaue Lotus" prägte.
Wie Kinofilme die Comic-Bildwelten beeinflussten und zum Beispiel ein Gorilla bei Hergé wahlverwandtschaftlich mit King Kong verbunden ist. Sogar die Kunstsammlung Hergés ist zu sehen – mit Bildern von Dubuffet, Warhol oder Lichtenstein.
Die dunklen Seiten Hergés werden nur gestreift
Es ist eine detailverliebte, umfassende Hergé-Ausstellung, die den Pionier und Meister des europäischen Comics feiert und dennoch Fragen offen lässt. Denn die dunkleren Seiten in Leben und Werk Hergés werden allenfalls gestreift: Seine umstrittene Mitarbeit bei der von den Nazis kontrollierten Zeitung "Le Soir" während des Zweiten Weltkriegs, der glühende Anti-Kommunismus des Tim und Struppi-Bands "Bei den Sowjets" oder der – sicher zeittypische – Rassismus von "Tim und Struppi im Kongo".
Etwas mehr kritische Distanz zu diesem zweifellos "großen Künstler des 20. Jahrhunderts" hätte der Retrospektive im Grand Palais jedenfalls gut getan.