Herman Melville zum 200. Geburtstag

Dieser Wal ist einfach unsterblich

29:37 Minuten
Ein weißer Wal schmückt den Eingang zum New Bedford Whaling Museum in Massachusetts. Hier wird alljährlich 25 Stunden nonstop aus Herman Melvilles Roman "Moby Dick" gelesen.
Ein weißer Wal schmückt den Eingang zum New Bedford Whaling Museum in Massachusetts. Hier wird alljährlich 25 Stunden nonstop aus Herman Melvilles Roman "Moby Dick" gelesen. © dpa / picture alliance / Stephan Savoia
Von Thomas David |
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An Herman Melvilles Roman "Moby Dick" haben sich nachfolgende Generationen von Autorinnen und Autoren gemessen. Was fasziniert sie so an dem berühmten weißen Wal − und der Art und Weise, wie Melville von der Jagd auf ihn erzählt?
"Moby Dick" ist der größte Roman, der jemals geschrieben wurde, sagt die amerikanische Autorin Rachel Kushner, deren neuer Roman "Ich bin ein Schicksal" kürzlich erschienen ist. Und Katja Lange-Müller, Autorin unter anderem von "Böse Schafe" und "Drehtür", findet, dass der Wal kein Fisch sei: "Er ist ein denkendes und handelndes, großes, starkes, listiges, tückisches Lebewesen. Für die anderen ist der Wal nur 'ne Beute. Nur für Ahab ist er ein Gegner."
Für den New Yorker Schriftsteller Jonathem Lethem, Autor unter anderem des Romans "Motherless Brooklyn", wiederum ist "der Wal ein Geist. Ein Phantom. Ein Mythos. Er ist der Tod. Er ist das Leben. Er ist das Andere. Er ist das Fremde. Er ist das Bewusstsein. Er ist Gott. Er ist der Teufel."
In jedem Fall ist Moby Dick unsterblich. So unsterblich wie sein Schöpfer, der neben "Moby Dick" auch die Romane "Mardi" und "Pierre" oder so einzigartige Erzählungen wie "Bartleby, der Schreiber", "Benito Cereno" und "Billy Budd" schrieb.
Kaum vorstellbar, dass Herman Melville bei seinem Tod im September 1891 fast vergessen war. Peter Bergman, Schriftsteller und Mitarbeiter des von 1850 bis 1863 von Melville bewohnten, heute als Museum geführten Farmhauses "Arrowhead" in Pittsfield, Massachusetts, in dem der berühmte Roman erscheint: "Tatsächlich war er bei seinem Tod so vergessen, dass die 'New York Times' in ihrem Nachruf [auf Melville] sogar einen falschen Vornamen veröffentlichte."
Herman Melville (1819-1891) auf einem Porträt, das ihn zu einem Zeitpunkt zeigt, bevor er sein Meisterwerk "Moby Dick" schrieb.
Herman Melville (1819-1891) auf einem Porträt, das ihn zu einem Zeitpunkt zeigt, bevor er sein Meisterwerk "Moby Dick" schrieb.© Ann Ronan Picture Library
Doch seit seiner literarischen Wiederauferstehung in den 1920er-Jahren gilt "Moby Dick" als Inbegriff der "Great American Novel", des großen Romans, an dem sich nachfolgende Autorengenerationen gemessen haben und bis heute messen.
Katja Lange-Müller las als Schülerin die 1853 erschienene Erzählung über den Kanzleischreiber Bartleby, der seinem Vorgesetzten die Arbeit verweigert, zum ersten Mal. Seitdem ist die 1951 in Ostberlin geborene und in der DDR aufgewachsene Schriftstellerin eine von Melvilles genauesten Leserinnen. Ihre in Nicaragua spielende Erzählung "An einem Strand" sei beispielsweise unmittelbar aus ihren Melville-Lektüren und Melvilles Beschäftigung mit den "großen christlichen Fragen" hervorgegangen.
Joshua Cohen, Autor etwa von "Solo für Schneidermann" und "Buch der Zahlen", wiederum wollte einen Schiffsroman schreiben, anstelle eines Schiffes sollte es jedoch einen Umzugswagen geben. Die Verbindung zu Ahabs Schiff, der "Pequod", ist aber deutlich:
"Jeder Mitarbeiter ist von anderer ethnischer Zugehörigkeit. Daraus ergibt sich wie auf der 'Pequod' das Bild der Koexistenz verschiedener Rassen. Wie auf Kapitän Ahabs Schiff kommen wir gut miteinander aus, solange wir alle versuchen, einen Wal umzubringen."

Der perfekte Text für die Occupy-Bewegung

Nicht immer müssen die Bezüge, wie Katja Lange-Müller sagt, so direkt sein: "Indirekt bin ich schon sehr von Melville beeinflusst, aber eben nicht vordergründig. Natürlich, meine empirischen Erfahrungen sind ganz andere, weil ich mich an anderen Schauplätzen getummelt habe als Melville."
Auch die Erzählung von Bartleby, dem Schreiber, der sich allem, was ihm aufgetragen wird, konsequent verweigert, hatte einen großen Einfluss auf viele Schriftsteller. Joshua Cohen findet darin sogar einen ganz aktuellen Bezug:"Bartleby, der Schreiber" war der perfekte Text für etwas wie die Occupy-Bewegung. Die Kompromisslosigkeit dieser Zeile in "Bartleby" fand in den Köpfen der Leute, die vom Finanzcrash [des Jahres 2008] betroffen waren, ihren Widerhall. Das ist in meinen Augen von größerer Bedeutung als jedes literarische Interesse an der Story."
"Der perfekte Text für unsere Zeit, in der wir einen Weg finden müssen, aus dem System herauszutreten", findet auch Jonathan Lethem.
Und der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai feiert in der voraussichtlich 2020 auch in deutscher Übersetzung erscheinenden Novelle "Spadework for a Palace" Melville als einen Seelenverwandten: "Wieso? Weil die Halbverrückten kennen einander. Dieses Alleinsein, wesentliche Einsamkeit, das fühlt mich sehr nah zu ihm."
Das Manuskript zur Sendung Herman Melville zum 200. Geburtstag zum Nachlesen als PDF
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