Hermann Amborn: "Das Recht als Hort der Anarchie"

Gibt es Recht ohne Staat?

Eine Lupe zeigt Paragrafen Paragraphen Zeichen.
Eine Lupe zeigt Paragrafen Paragraphen Zeichen. © imago / Jochen Tack
Von Klaus-Rüdiger Mai |
Der Ethnologe Hermann Amborn rüttelt an westlichen Gewissheiten: Er meint, der Rechtsstaat sei kein Garant für Ordnung und Demokratie. Anarchie könne Ordnung produzieren. Er ruft dazu auf, von anarchischen Gesellschaften am Horn von Afrika zu lernen.
Eigentlich scheint es ganz eindeutig zu sein: Das Recht und die Rechtlichkeit ist das bewunderungswürdige Ergebnis der europäischen Geschichte. Das Recht ist ein Hort der Ordnung und spielt für jede funktionierende Demokratie eine grundlegende Rolle. Die Zivilisationsbrüche und Verbrechen im Europa des 20. Jahrhunderts – wie der Stalinismus oder der Nationalsozialismus – gelten als Rechtsbeugungen und als Rechtsbrüche und bestätigen die Bedeutung des Rechts.

Auch Anarchie kennt Regeln

Doch genau dieser Sichtweise widerspricht Hermann Amborn bereits im Titel seiner so provokativen wie exzellenten Analyse. Er hinterfragt die Selbstverständlichkeit und reißt uns aus dem Schlaf der Selbstgerechten. Nicht Ordnung bringt das Recht hervor und behütet es, schreibt Amborn, sondern Anarchie. Das Recht als Mutter der Anarchie?
Lesenswert ist zu allererst, wie er die Begriffe definiert und nachvollziehbar klärt. Anarchie bedeutet nämlich nicht, ohne Regeln zu leben, sondern, wie es der griechische Begriff bereits sagt, ohne Herrschaft zu sein. Der Anarchist lehnt keine Regeln ab, sondern einzig und allein die Herrschaft von Menschen über Menschen. Man könnte sogar etwas vereinfacht sagen, wenn alle Menschen sich an allseits akzeptierte Regeln hielten, die wir Gesetze oder Normen nennen, dann bedürfte es keiner Herrschaft.
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Cover: "Das Recht als Hort der Anarchie" von Hermann Amborn© Matthes & Seitz Berlin
Aber ganz so einfach scheint die Sache nicht zu sein. Trifft die These von Thomas Hobbes wirklich zu, dass wir im Naturzustande über einander herfallen würden, keine Regeln existierten und der Mensch des Menschen Wolf wäre?

Lernen von Somaliland und Puntland am Horn von Afrika

In seiner wissenschaftlichen Arbeit als Ethnologe hat Amborn Gesellschaften kennengelernt, in denen "gesellschaftliche Ausdrucksformen, Emanationen, Ideen, Handlungen und Institutionen" existieren, die sich "gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen richten". Er fragt danach, wie das Recht das Fortbestehen dieser Gesellschaften ermöglicht, gerade in dem es die Konzentration von Macht in den Händen weniger verhindert. Indem er gesellschaftliche Alternativen beschreibt, gewährt er uns einen Blick von außen auf die Grundsätze unserer eigenen Gesellschaft, zu deren Grundlagen das Machtmonopol des Staates und die Erzwingungsgewalt des Rechtes gehören. Dazu stellt er die westliche Vorstellung von Recht, Macht, Herrschaft und Gewalt den Gesellschaften in Somaliland und Puntland am Horn von Afrika gegenüber.

Westliche Normen hinterfragen

Methodisch wichtig ist Amborns gedankliche Voraussetzung, jene Gesellschaften nicht als historisch zurückgeblieben zu betrachten, die durch genügend westliche Betreuung den Sprung in die Moderne schaffen könnten. Er betrachtet sie als Zeitgenossen, die ein Gesellschafsmodell bevorzugen, das nicht rückständig, sondern nur anders und uns fremd ist. Ihr Widerstand gegen jede "Bevormundung durch den Staat" wird von einer anarchistischen Haltung getragen, die von ihrem Recht geschützt wird, wie er in der eindrucksvollen und beispielgesättigten Darstellung belegt.
Hermann Amborns Studie kommt zur rechten Zeit, weil sie hilft, die Enge und Unvermeidlichkeit unseres Paradigma zu verlassen. In einer Zeit, in dem die Gewissheiten unserer westlichen Gesellschaft fragwürdig werden, der Staat immer öfter die Kontrolle verliert und zuweilen das Gewaltmonopol des Staates in den Zweifel gerät, ist es immer wichtig, kritisch und schonungslos über unsere Gesellschaft, über unsere Werte und Normen nachzudenken. Und sei es nur, um sich ihrer zu vergewissern.
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