Pionier des Genossenschaftswesens
Sich zusammentun, gemeinsam wirtschaften und am Markt behaupten - Hermann Schulze-Delitzsch gründet Mitte des 19. Jahrhunderts eine der ersten Genossenschaften in Deutschland.
"Ein neues Lied, ein bessres Lied - oh Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen auf Erden glücklich sein, und wollen nicht mehr darben. Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben."
Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Zeit des Fortschrittwillens - wie es auch Heinrich Heine in seinem "Wintermärchen" beschreibt. In Deutschland misslingt die Märzrevolution zwar, politische Reformen bahnen sich dennoch ihren Weg. Die Ablehnung des Obrigkeitsstaates wächst.
Und auch die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, doch sie bringt viele Verlierer hervor. In Delitzsch im Norden Sachsens verarmen zahlreiche Arbeiter, darunter Handwerker. Der Jurist und Lokalpatriot Hermann Schulze-Delitzsch sieht einen Ausweg: Ende 1849 gründet er zunächst eine Tischler-, dann eine Schuhmacher-Assoziation, wie es damals heißt. Deren Mitglieder sollen sich als Gemeinschaft am Markt behaupten, so die Idee - erklärt Philipp Bludovsky, leitender Kurator im Deutschen Genossenschaftsmuseum in Delitzsch:
"Da ging es darum, dass genau diese Menschen sich hier zusammentun, Ressourcen bündeln und Ersparnisse am Markt sammeln durch den Einkauf von Waren, somit also auch die Preisersparnisse an die Kunden weitergeben und selbst wieder konkurrenzfähig waren."
Bündnis gegen wirtschaftliche Not
Mengenrabatt und gemeinsamer Warenverkauf - für Schulze-Delitzsch das Rezept gegen wirtschaftliche Not. Es entstehen auch sogenannte "Vorschussvereine", die späteren Volksbanken, die die Handwerker mit günstigen Krediten versorgen.
Das Konzept findet in verschiedenen Sparten Nachahmer - es ist die Geburtsstunde des Genossenschaftswesens in Deutschland. Inspirieren lässt sich Schulze-Delitzsch von ähnlichen Konzepten in Skandinavien oder Großbritannien, die er auf Reisen persönlich begutachtet. Für die damalige Zeit ein progressiver Ansatz, meint Kurator Bludovsky:
"Die Genossenschaftsform an sich war damals auf jeden Fall eine alternative Wirtschaftsform - weil genau daraus versucht wurde, die Menschen mit ins Boot zu nehmen, also die einfachen Handwerker und Arbeiter. Und genau dort hat er die Chance gesehen, dass Menschen über Mitbestimmung und über Teilhabe das System mit verändern können."
Über die langfristigen Strukturen der Genossenschaften gibt es unterschiedliche Ansichten. Staatliche Unterstützung etwa lehnt Schulze-Delitzsch ab, sein Leitspruch lautet: "Hilfe durch Selbsthilfe". Der einflussreiche Sozialist Ferdinand Lassalle hingegen hält Zuschüsse für Genossenschaften für erforderlich, um mittellose Arbeiter besser vor der Großindustrie zu schützen.
Einig sind sich beide in einem Punkt: kein materieller Wohlstand ohne Mitwirkung. Und dies sowohl innerhalb der Genossenschaften als auch im politischen Bereich - so der Historiker Ralf Hoffrogge von der Ruhr-Universität Bochum:
"Bürgerliche Demokratie - das war bei Schulze-Delitzsch 'Sozialreform durch Wahlrecht'. Das ist aber auch etwas, was Lassalle vertreten hat, sowohl auf parlamentarischer Ebene als auch im ökonomischen Bereich in der Genossenschaft."
Historisch gesehen hält Hoffrogge vor allem die innere Demokratie in Genossenschaften für einen Schlüssel zur weiterführenden politischen Gestaltung.
Gemeinsam wirtschaft, gemeinsam entscheiden
"Genossenschaften leben von Partizipation, leben von Demokratie. Und wenn diese Demokratie da ist, kann man natürlich auch Forderungen nach außen stellen."
Dem Prinzip der inneren Demokratie verschreiben sich auch Baugenossenschaften - neben dem Versprechen, preisgünstigen Wohnraum zu schaffen. Ca. 2000 von ihnen gibt es in Deutschland, etwa 80 davon in Berlin. Ein Besuch bei Thomas Schmidt illustriert jedoch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Anspruchs der Mitwirkung.
Schmidt ist Mitbegründer der Initiative "Genossenschaft von unten". Seit 2008 ist sie ein Austauschforum für Hunderte unzufriedener Mitglieder von Baugenossenschaften - und erfüllt laut Schmidt ein wachsendes Bedürfnis:
"Also, es begann in dieser Zeit, dass zunehmend aus Klagen kamen aus Genossenschaften. Da ging es um Vorstandsentscheidungen, an denen sie nicht beteiligt wurden - an Mieterhöhungen, Modernisierungen … Eigentlich alles Dinge, die man im Prinzip sonst von privaten Vermietern kennt."
Das Projekt bietet monatliche Treffen an, sucht zudem direkten Kontakt zu Politikern. Genossenschaftsmitglied Schmidt sieht unzufriedene Mitglieder in einer Sackgasse. Zwar würden nicht alle ihre Mitwirkungsrechte voll ausschöpfen, doch stießen engagierte Mitglieder vor allem in größeren Genossenschaften häufig auf zu mächtige Vorstände. Bei vielen stelle sich somit auf Dauer Resignation ein.
"Ich kenne Leute, die zum Beispiel gesagt haben: 'Ich kandidiere nicht mehr als Vertreter!' Weil man so wenig Rechte hat, und manchmal wird man auch vielleicht von dem einen oder anderen Vorstandsmitglied komisch angesprochen."
Thomas Schmidt sieht die Politik am Zug. Von der Grundidee der inneren Mitbestimmung ist er überzeugt. Um sie aber wieder flächendeckend zu fördern, müssten die Befugnisse einzelner Mitglieder gegenüber Vorständen gesetzlich gestärkt werden. Dies, so glaubt er, würde zu frischem Engagement motivieren.
"Wir haben schon die Hoffnung, dass wenn man mehr Möglichkeiten der Beteiligung schafft, dass das auch für mehr Leute ein Anreiz ist, aktiv zu werden."