Hernan Diaz: "Treue"

Finanzwelt-Roman als Drahtseilakt

06:25 Minuten
Hernan Diaz: "Treue"
© Hanser Verlag

Hernan Diaz

Hannes Meyer

TreueHanser Berlin, Berlin 2022

416 Seiten

27,00 Euro

Von Fabian Wolff · 25.07.2022
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Hernan Diaz erzählt von einem gefallenen Börsenspekulanten und seiner psychisch kranken Frau, von einer angeeigneten Lebensgeschichte und einer obsessiven Journalistin. Bei den vielen Themen und Tonlagen hält er nicht immer die Balance.
Im Theaterstück "Lehman Trilogy" über Aufstieg und Fall der New Yorker Bankiersdynastie gibt es das Motiv eines Seiltänzers, der zwischen Hochhäusern der Wall Street balanciert, atemlos bewundert, und der nach 50 Jahren pünktlich zum Black Thursday 1929 zusammen mit den Aktien auf den Boden kracht.
Der Roman "Treue" von Hernan Diaz lässt an diesen Seiltänzer denken – nicht nur, weil auch hier der Great Crash einen Wendepunkt darstellt. Diaz' gesamte Erzählweise ist so ein Hochseilakt: das Buch besteht aus vier fiktiven Manuskripten von vier Stimmen, die sich zu einer großen Geschichte über Ehe, Lügen und Aktienkurse zusammensetzen.
Diaz muss also nicht nur glaubhafte Figuren entwerfen, er muss diese Figuren auch glaubhaft über sich selbst schreiben lassen. Ein falscher Schritt, und die ganze Erzählung fällt zusammen, einfach nur ein weiterer Pasticheroman zwischen bemühter Postmoderne und fragmentiertem Pathos.

Ehekrise eines Aktienspekulanten

Der erste Teil ist der Schlüsselroman "Verpflichtungen" von 1938 über den fast übernatürlich begabten Aktienspekulanten Benjamin Rask und seine musische Frau Helen. Trotz eines festen Platzes in den oberen Zehntausend, zahlreicher Hauskonzerte und sozialer Wohltaten bleiben sie für ihre Umwelt unnahbar, und auch das große Drama ihrer Ehe, eine psychische Erkrankung Helens, bleibt ihnen verborgen. In einer Nervenheilanstalt in der Schweiz wird Helen experimentellen Behandlungen unterzogen, die sie schließlich töten. Ihr Ehemann bleibt zurück, melancholisch, aber nicht gebrochen. Nur das Börsenglück hat ihn verlassen.
Dieser Roman wird bei Erscheinen zum Gespräch der ganzen Stadt – zum großen Ärger von Andrew Bevel, der die Geschichte seiner Ehe mit der bereits verstorbenen Mildred hier grob angeeignet vorfindet. Seine eigenen Memoiren, trocken und mit Ellipsen versehen (“Kurzer Absatz Mildred, Freuden der Häuslichkeit”), sind der zweite Teil des Buches.

Memoiren aus der Nervenklinik

Der dritte Teil, die Memoiren der Journalistin Ida Partenza, erzählt von ihrer Arbeit als Schreibhilfe für Bevel und von ihrer Obsession mit Helen. Deren Tagebuch aus der Nervenklinik, samt einem großen Geheimnis, ist der vierte und letzte Teil.

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Es ist ein Kompliment an das Buch, dass es sich trotz dieser etwas überspannten Konstellation ruhig und einnehmend liest, sich sogar etwas bieder gibt und den Lesenden trotzdem oft voraus ist. Der riskanteste Teil ist der einleitende Kurzroman: Er muss nicht nur als Roman funktionieren, sondern auch als Roman von 1938.
Spitzfindig gelesen tut er das aber nicht: keine Spur von Modernisten wie Dos Passos oder Hemingway, eher Erinnerungen an die psychologischen Panoramen des „Gilded Age“ von Henry James und Edith Wharton. 100 Seiten später lässt er Ida Partenza als avancierte zeitgenössische Leserin genau dieses Urteil aussprechen: Publikumserfolge sind schließlich selten auf der Höhe der Zeit.

Große Themen werden angepriesen

Leider geht der deutschen Übersetzung von Hannes Meyer diese künstliche Patina fast gänzlich ab, auch die vier Stimmen des Romans laufen hier dichter zusammen als im Original. Andere Probleme wie die vielschichtigen Überschriften (schon “Trust” ist Treue, meint im Englischen aber eben auch einen Konzern) sind letztlich unlösbar, aber eh ein bisschen Augenwischerei.
Die großen Themen – die Seele des amerikanischen Kapitalismus, Kunst und Wahrheit, wie Menschen miteinander leben – werden angetippt, besser noch: angepriesen, ein bisschen, als wäre der Roman sein eigener Klappentext.
Trotz dieser Spiele mit Tonfällen, Stil und historischen Referenzen möchte “Treue” vor allem eine bewegende Geschichte erzählen, eine, die vielleicht genauso fesselt und berührt wie das Publikum 1938. Emotionalen Gehalt und Metastruktur miteinander harmonisieren lassen, ist vielleicht ein Kunststück zu viel: als balancierte der Seiltänzer noch ein Wasserglas auf der Nase.
Aber, immerhin: Diaz schafft es ohne Absturz und fast ohne Straucheln sicher von Punkt A zu Punkt B. Und das ist schließlich mehr wert als alles Geld der Wall Street.
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