Hertha Pauli: „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“

Dunkelste Fluchtgeschichte erlebbar gemacht

05:39 Minuten
Cover von Hertha Pauli: „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“
© Hanser

Hertha Pauli

Der Riss der Zeit geht durch mein HerzZsolnay, Wien 2022

251 Seiten

25,00 Euro

Von Carsten Hueck · 11.08.2022
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Hertha Pauli, Schauspielerin bei Max Reinhardt in Berlin, floh vor den Nazis erst nach Wien, dann nach Paris und weiter in die USA. Ihre Erinnerungen vermitteln hautnah und mitreißend die Atmosphäre, in der Flüchtlinge nach Überlebensmöglichkeiten suchen.
Wir wünschen uns, dass die Zeit fließt, uns trägt und als Kontinuum umfängt. Aber Zeitläufe verändern sich mitunter dramatisch. Abrupt implodiert oder explodiert das Kontinuum und der Mensch steht schutz- und orientierungslos im bloßen Dasein.
Hertha Pauli weiß in ihren Erinnerungen davon zu berichten. Von plötzlichen Erschütterungen und Abbrüchen, von Bedrohung durch politische Veränderungen, von Zufällen, die ein Leben retten oder zerstören.

Aus guter Familie

In Wien 1906 geboren, hinein in eine stabile Monarchie und ein intellektuelles Elternhaus, als Tochter eines Arztes und einer Journalistin, die auch engagierte Frauenrechtlerin war, brach die Siebzehnjährige die Schule ab, um eine Ausbildung als Schauspielerin zu machen.
Sie war begabt, Max Reinhardt holte sie nach Berlin, sie war verheiratet, bis sie sich in den Dramatiker Ödon von Horváth verliebte. Ihm zuliebe ließ sie sich scheiden und als er sie verließ, drehte sie den Gashahn auf. Sie überlebte. Als die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen, ging Hertha Pauli zurück nach Wien, wo sie eine literarische Agentur gründete, die vor allem verfolgte Autoren vertrat.

Ein Erlebnisbuch

1938 fand der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich statt – und damit beginnen die Erinnerungen Hertha Paulis. Dreißig Jahre später verfasst und 1970 zum ersten Mal publiziert, sind sie nun dankenswerter Weise noch einmal neu aufgelegt worden.
Ihr Buch sei – schreibt die Autorin – ein „Erlebnisbuch“, eine „Brücke über den Riss der Zeit hinweg“. Und tatsächlich ist das Buch genau das. Es führt in eine der dunkelsten Perioden des 20. Jahrhunderts, bietet Action, versetzt Lesende direkt in die jeweilige Situation: zuerst an den Caféhaustisch, an dem Pauli mit ihren Freunden 1938 gebannt die politische Entwicklung verfolgt. Allen ist klar, dass sie emigrieren müssen.

Prominente als Verfolgte

Mit dabei: die deutsch-jüdischen Schriftsteller Walter Mehring, Franz Werfel mit seiner Ehefrau Alma Mahler-Werfel, Horváth und Karl Frucht, Hertha Paulis Partner in der Agentur. Es geht Schlag auf Schlag weiter: Flucht nach Zürich, weiter nach Paris. Dort regelmäßige Treffen beim österreichischen Autor und Journalist Joseph Roth, der es verstand, Monarchisten und Kommunisten an einen Tisch zu bringen.
Wie ein Déjà-vu: die Preisgabe der Tschechoslowakei. Entsetzen, als Horváth von einem Ast erschlagen wird, der Ausbruch des Weltkrieges, erneute Flucht nach Südfrankreich, Internierung der Freunde, Selbstmorde, schließlich Rettung durch Varian Frys Emergency Rescue Committee über Spanien und Portugal in die USA.

Spürbare Dramatik

Hertha Pauli beschreibt all das uneitel und ohne künstliche Effekthascherei. Die Dramatik der damaligen Situation ist jedoch stets spürbar, in knappen Bemerkungen der Autorin und durch pointierte, lebendige Dialoge. Verluste notiert die Autorin ebenso selbstverständlich wie lebensrettende Zufälle.
Auch wenn diese Zeit ihres Lebens sicherlich die schwerste war – Hertha Paulis literarische Erinnerungen daran durchzieht ein positiver Ton, getragen von lebensbejahendem Temperament und humaner Gesinnung.
 
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