Hervé Le Tellier: "All die glücklichen Familien"

Eltern-Kind-Drama voll wunderbarer Ironie

Familien liefern vermutlich unerschöpflichen Romanstoff: "All die glücklichen Familien" des französischen Autors Hervé Le Tellier zeichnet sich durch seine Erzählkunst aus.
Familien liefern vermutlich unerschöpflichen Romanstoff: "All die glücklichen Familien" des französischen Autors Hervé Le Tellier zeichnet sich durch seine Erzählkunst aus. © Mike Scheid/Unsplash; dtv
Von Carolin Fischer |
Die Mutter absolut dominant, der Stiefvater ein Langweiler, der leibliche Vater ein Frauenheld. Hervé Le Telliers Roman "All die glücklichen Familien" widmet sich den alltäglichen Dramen hinter der Wohnungstür. Ein Lesevergnügen voll literarischer Leichtigkeit.
"All die glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." Natürlich ist der Titel von Hervé Le Telliers neuestem Buch eine Anspielung auf den berühmten Auftakt von Anna Karenina, und das Zitat findest sich in voller Länge als Motto des letzten Kapitels. Wir können zu Recht vermuten, dass die hier vorgestellte Familie keine glücklich ist, aber ihre Geschichte ist auch nicht besonders tragisch.
Der Autor lässt keinen Zweifel daran, um welche Familie es geht, denn auf den ersten beiden Seiten finden wir den "Stammbaum des Erzählers", der auf "Hervé Le Tellier" hinausläuft. Mit diesem schlichten Kunstgriff macht er deutlich, dass wir keine Biographie, sondern einen Roman lesen. Es handelt sich indes nicht um ein weiteres Beispiel egozentrischer "autofiction", wie sie in Frankreich immer noch in Mode ist, denn die Hauptfigur ist eben nicht der Ich-Erzähler. Hier wird uns eine richtige Familiengeschichte erzählt.

Warum wollen wir sie lesen? Die geschilderten Ereignisse sind in der Regel wenig spektakulär, doch Le Telliers Art, sie zu präsentieren, zeichnen das Buch aus. Es beginnt mit seiner wunderbaren Ironie, die sich bereits im Stammbaum findet, in dem die Le Telliers direkt von Karl dem Großen abstammen. Statt mit dem üblichen Symbol zweier sich überlagernder Ringe sind die vier Ehefrauen dort mit Hervés Erzeuger durch ein Herzchen verbunden, das die Erzählung Lügen straft.

Wenig spektakuläre Mittelklasse-Familie

Neben den diversen Motti eingangs jeden Kapitels finden wir auch zahlreiche andere literarische Anspielungen, die, wie der oftmals spielerische Umgang mit der Sprache, zum Lesevergnügen beitragen, ohne den Text zu belasten. Ebensowenig belastet der Erzähler uns mit seiner traurigen Kindheit. Vielmehr beginnt er damit, sich wiederholt ob seines Mangels an Sohnesliebe oder anderer Gefühle als "Monster" vorzuführen, anstatt die Eltern zu verurteilen. Besonders gut kommen diese trotzdem nicht weg: Die Mutter ist absolut dominant und herzlos, der Stiefvater ein untergebutterter Langweiler, der leibliche Vater ein notorischer Frauenheld.
Die Individualität der einzelnen Mitglieder dieser wenig spektakulären Mittelklasse-Familie betont der Autor, indem er jedem von ihnen jeweils ein Kapitel widmet, in dem es logischerweise auch um die Beziehungen zu den anderen Angehörigen geht, aber die Eigenheiten der jeweiligen Figur besonders prägnant und plastisch zum Ausdruck kommen. Da Hervé Le Tellier schon beim Großvater beginnt, deckt er rund ein Jahrhundert französischer Geschichte ab, die er als Folie immer wieder aufscheinen lässt, wenn etwa von den verschiedenen Autofabrikanten, für die der Großvater gearbeitet hat, die Rede ist, oder wenn an die deportierten jüdischen Mitschülerinnen seiner Mutter und Tante namentlich erinnert wird. Dennoch zeichnet sich der Roman durch eine große Leichtigkeit aus, selbst wenn diese auf der letzten Seite als eine Maske entlarvt wird.

Hervé Le Tellier: All die glücklichen Familien
Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
Dtv, München 2018
186 Seiten, 20 Euro

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