Unser Literaturexperte für Frankreich, Dirk Fuhrig, hat die vier Nominierten vor der Preisverleihung vorgestellt. Hören Sie sein Gespräch mit Joachim Scholl:
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Französischer Literaturpreis für Roman über Klonen und Überwachung
In "L'Anomalie" geht es um die Frage nach Wahrheit und Simulation. Für diesen Roman erhält der französische Autor Hervé Le Tellier die bedeutendste Literaturauszeichnung des Landes, den Prix Goncourt. Der wird in diesem Jahr mit Verspätung verliehen.
Der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier ist am Montag für seinen Roman "L’Anomalie" (etwa: Die Anomalie) mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden, Frankreichs wichtigstem Literaturpreis. Das teilte die Jury des Preises am Montag in Paris mit.
Das Buch "Die Anomalie" spielt im Frühjahr/Sommer 2021. Ein Flugzeug landet zwei Mal im Abstand weniger Wochen am selben Ort, mit den gleichen Menschen an Bord. Plötzlich haben alle Personen ein Double. Was ist Wahrheit, was Simulation? Klonen, Geheimdienste, Kontrolle, Überwachung – all das spielt eine Rolle in diesem Buch, das sowohl Kriminalroman als auch Science-Fiction-Szenario ist und Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit aufwirft. Ist unser Leben eine einzige Simulation? Werden wir manipuliert – und von wem? Leben wir alle in einer Parallelwelt? Ein spannend und packend geschriebener Roman, der Themen anreißt, die uns in den modernen, von Technologie beherrschten Gesellschaften beschäftigen - vielschichtig und meisterhaft komponiert.
Le Tellier ist durch mehrere frühere Bücher auch in Deutschland bekannt. Beispielsweise erschien sein Werk "Toutes les familles heureuses" (Deutsch: "All die glücklichen Familien"), ein Eltern-Kind-Drama voll wunderbarer Ironie, 2018 bei dtv erschienen. Oder auch "Neun Tage in Lissabon", ein verspielter Roman im Roman, dessen deutsche Übersetzung 2013 herauskam. Le Tellier ist Jahrgang 1957 und Mitglied der "Oulipo"-Bewegung, die sich bestimmten formalen Vorgaben für das Schreiben unterwirft.
Drei weitere Romane waren nominiert
In der Endauswahl für den Preis waren weitere drei Werke: zwei eher autobiografische und ein historischer Roman.
Bei "Les impatientes" (Die Ungeduldigen) von Djaïli Amadou Amal war es eine Überraschung, dass der Roman in die letzte Auswahl des Prix Goncourt gekommen ist, denn es ist das erste Buch der kamerunischen Schriftstellerin, das in Frankreich erschienen ist. Thema sind Zwangsverheiratungen in Westafrika. Die Autorin, Jahrgang 1975, wurde selbst mit 17 Jahren in eine Ehe gezwungen. Der Roman ist ein großer Klagegesang aus der Perspektive dreier junger Frauen, mit stellenweise sehr grausamen Beschreibungen von Vergewaltigung und Demütigung.
Auch bei Maël Renouard, 1979 geboren, ist "L'historiographe du royaume" (etwa: Der Geschichtsschreiber des Königreichs) eines der ersten Bücher. Es schildert den inneren Zirkel des Königs von Marokko, Hassan II., der sich zum Tyrann entwickelt. Es geht um Abhängigkeit, Aufstieg aus armen Verhältnissen, Manipulation, Opportunismus – ein historischer Roman, der sehr fein die Mechanismen der Herrschaft und die Verführung durch die Nähe zur Macht skizziert.
Nominiert war zudem der Roman "Thésée, sa vie nouvelle" – (etwa: Thésées neues Leben) von Camille de Toledo. Der Schriftsteller lebt seit vielen Jahren in Berlin, und darum geht es auch in diesem autobiografisch grundierten Roman: Nach dem Selbstmord seines Bruders zieht der Protagonist von Paris nach Berlin um. Ausgerechnet in der Stadt der einstigen Täter beginnt er ein neues Leben, denn er stammt aus einer jüdischen Familie. Die mitunter ans Lyrische grenzende Schreibweise taucht tief in die Selbstzweifel und Depressionen des Protagonisten ein. Eine beklemmende Seelenschau, die neben der familiären Vergangenheit die Geschichte Europas mit verhandelt.
Bekanntgabe wegen des Lockdowns verschoben
Der Prix Goncourt ist zwar lediglich mit symbolischen zehn Euro Preisgeld dotiert, aber er lässt vor allem die Verkaufszahlen steigen. Aus diesem Grund war die Bekanntgabe des Preisträgers in diesem Jahr um drei Wochen verschoben worden. Die Jury wollte sich angesichts des Lockdowns in Frankreich solidarisch zeigen mit den Buchhandlungen, denen ein großes Geschäft entgangen wäre - immerhin ist ein Prix Goncourt für um die 300.000 verkaufte Bücher gut. Seit Samstag aber sind in Frankreich die Buchhandlungen wieder offen. Anders als sonst tagte die Jury auch nicht beim traditionellen Mittagessen in einem Pariser Feinschmeckerlokal, sondern in einer Videokonferenz. Vergeben wird der Preis seit 1903.
Im vergangenen Jahr hatte Jean-Paul Dubois den Prix Goncourt für seinen Roman "Tous les hommes n'habitent pas le monde de la même façon" (etwa: Die Menschen bewohnen die Erde auf unterschiedliche Weise) erhalten.
Eine ausführliche Bewertung und Einordnung des diesjährigen Preisträgers beim Prix Goncourt hören Sie in unserer Sendung "Fazit" ab 23:05 Uhr.