Hervé Le Tellier: "Die Anomalie"

Die doppelte Boeing

05:25 Minuten
Das Cover des Buches "Die Anomalie" von Hervé Le Tellier auf pastelligem Untergrund.
Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur: Hervé Le Teliers "DIe Anomalie". © Deutschlandradio / Rowohlt
Von Rainer Moritz |
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Nach einem turbulenten Flug landet eine Air-France-Maschine in New York. Drei Monate später landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Die Mitreisenden sind mit sich selbst konfrontiert. Hervé Le Tellier spielt mit Realitäten.
Was für ein grandioser Roman, was für ein Hecht im Karpfenteich der oft etwas biederen, moralisch aufrechten westeuropäischen Gegenwartsliteratur! Der 1957 geborene Hervé Le Tellier hat mit "Die Anomalie" ein aufregendes, ein singuläres Buch geschrieben. Im Herbst des letzten Jahres erhielt er dafür in Frankreich den Prix Goncourt, und mittlerweile schickt sich der Roman an, mit einer Millionenauflage zum erfolgreichsten aller mit diesem Preis ausgezeichneten Werke zu werden und damit sogar Marguerite Duras’ "Der Liebhaber" zu übertreffen.

Potenzielle Literatur

Der studierte Mathematiker und Linguist Le Tellier ist Mitglied der legendären Autorengruppe "Oulipo", die mit größter Lust das Formen- und Sprachsystem des fiktionalen Erzählens zu sprengen versucht. Um "potenzielle" Literatur geht es den Oulipotisten, um das Ausreizen von Möglichkeiten, um das Sich-nicht-zufrieden-Geben mit vermeintlich gesicherten Realitäten.
Das Le Tellier’sche Erzählexperiment spielt – der Roman erschien in Frankreich im August 2020 – in der nahen Zukunft, dem Jahr 2021. Eine Air-France-Maschine gerät auf ihrem Flug Paris – New York in massive Gewitterturbulenzen und landet schwer beschädigt im März 2021 auf dem JFK-Airport. Der Anflug der Boeing sorgt in New York für schwerste Verwirrung, denn dort zeigt der Kalender bereits Juni 2021. Ein Flugzeug landet also, so scheint es, zum zweiten Mal binnen dreier Monate, das gleiche (oder dasselbe?) Flugzeug, mit, so scheint es, identischer Crew und identischer Passagierliste.

Donald at his best

Aus dieser Melange von Science-Fiction, Wissenschaftskrimi, Comedy und Gesellschaftssatire macht Le Tellier in drei Kapiteln ein faszinierend verschachteltes Prosastück, das an den Grundfesten eines naiven Realitätsverständnisses rüttelt. Was hat es mit der "Anomalie" dieses Fluges auf sich? Die seit 9/11 in Alarmbereitschaft befindlichen amerikanischen Sicherheitsbehörden schotten das markant verspätete Flugzeug auf einer Militärbasis in New Jersey ab und versuchen, mit Hilfe rasch hinzugezogener Wissenschaftler und Theologen das bedrohliche Geheimnis zu lüften. An den hektischen Unterredungen nimmt selbstverständlich auch US-Präsident Trump teil, der nur Bahnhof versteht und allenfalls aufhorcht, wenn er sich an Blockbuster-Filme erinnert fühlt. Allein wegen dieser brüllend komischen Szenen lohnt es sich, diesen Roman zu lesen.
"Die Anomalie", blendend übersetzt von Romy und Jürgen Ritte, ist gespickt mit wissenschaftlichen, philosophischen, literarischen und cineastischen Anspielungen und greift zum Beispiel auf die Theorien Nick Bostroms und die Frage zurück, ob die Welt als großangelegte, von höheren Intelligenzen entwickelte (Computer-)Simulation zu denken sei.

Was wäre wenn ...

Bei all diesen Ab- und Ausschweifungen, die die Leselust an keiner Stelle schmälern, verschmäht Le Tellier althergebrachte existenzielle Fragen nicht. Wenn er aus dem Leben von einem knappen Dutzend der 243 Air-France-Passagiere – einem Pop-Sänger, einer Anwältin, einem Architekten – erzählt und sie im Schlussteil auf ihre Doppelgänger, die ihnen drei Monate voraushaben, treffen lässt, stehen plötzlich die klassischen Was-wäre-wenn-Fragen einer Biografie im Raum. Und natürlich befand sich auch ein (mäßig erfolgreicher) Schriftsteller an Bord, Victor Miesel, der nach der März-Landung einen Roman mit dem Titel "Die Anomalie" auf den Markt brachte ...

Hervé Le Tellier: "Die Anomalie". Roman
Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
350 Seiten, 22 Euro

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