Sprecher: Mirko Böttcher
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Kim Kindermann
Dem Herz wird geholfen, der Psyche kaum
28:46 Minuten
Es ist ein eklatanter Widerspruch. Kinder mit Herzerkrankungen bekommen heute in Deutschland eine erstklassige medizinische Versorgung. Bei der psychologischen Betreuung – auch der Eltern – gibt es aber gravierende Mängel.
Unser Herz. Sitz des Lebens. 200 Milliarden Mal schlägt diese Muskelpumpe im Lauf eines Menschenlebens. Hört es auf zu schlagen, sind wir tot.
Jedes 80. kommt Kind mit einem angeborenen Herzfehler zur Welt. Die Hälfte davon mit einem so schweren Defekt, dass mehrere Operationen nötig sind, um ihr Leben zu retten. Operationen, die die kleinen Patienten und Patientinnen mit körperlichen Einschränkungen zurücklassen. Doch trotzdem: Es sind große Fortschritte. Denn anders als vor Jahren erreichen diese herzkranken Kinder heute das Erwachsenenalter.
"Die letzten zehn bis 20 Jahre hat sich auf diesem Gebiet eben noch Erhebliches getan."
Professor Joachim Photiadis leitet die Abteilung für Kinderherzchirurgie am Deutschen Herzzentrum Berlin.
"Früher wurden Operationen so durchgeführt, dass man eben an die Herz-Lungen-Maschine gegangen ist. Den Patienten dann heruntergekühlt hat auf 18° oder noch weniger. Und dass man dann den Kreislauf angehalten hat. Man konnte dann ohne Blut arbeiten.
Die Technik ist immer besser geworden
Jetzt hat man aber im Nachgang festgestellt, dass das zwar sehr schön für den Operateur ist, aber nicht so gut für die Entwicklung des Kleinkindes, das dann ohne Kreislauf für 40 und vielleicht auch länger… Minuten verbringen musste. Ohne Organfunktion, ohne Organdurchblutung. Und heute wird praktisch nichts mehr mit dieser Technik durchgeführt."
Heute wird der Kreislauf nicht mehr gestoppt, sondern mit einer Herz-Lungen-Maschine künstlich aufrechterhalten.
"Früher war die Herz-Lungen-Maschine eben riesig, für Erwachsene. Dann hat man das immer weiter verkleinert und damit ist es jetzt eben möglich, dass wir auch bei Neugeborenen, auch kleinen Neugeborenen unter drei Kilo, so eine Herz-Lungen-Maschine durchführen können. Das sehen wir unmittelbar an der sehr, sehr niedrigen Sterblichkeit. Unter zwei Prozent ist es heutzutage."
Entscheidend aber ist, dass ein Herzfehler noch vor der Geburt erkannt wird. Doch ausgerechnet an diesem wichtigen Punkt versagt die Schwangerschaftsvorsorge – bis heute.
Fast zwei Jahre ist der kleine Matteo alt. An seinem Herz sind die großen Blutgefäße vertauscht. Ohne schnelle Herz-OP nach der Geburt bestand akute Lebensgefahr. Seine Mutter Laura-Jane Sinani ist von Beruf Hebamme. Klar, dass sie da alle Vorsorgeuntersuchungen gemacht hat. Einschließlich Standardultraschall. Alles unauffällig, hieß es. Dann der entscheidende Zufallsbefund: In ihrer Klinik gab es Leerlauf. Der ideale Zeitpunkt, um an der schwangeren Hebamme das neue, hochauflösende Ultraschallgerät auszuprobieren.
"Ich war im Dienst und durch den BVG-Streik damals hatte die Ärztin nichts zu tun. Und hat dann vorgeschlagen, ob sie einfach mal so drüber schallt. Und dann hat sie halt immer wieder aufs Herz geschallt und sie wurde dann auch immer ruhiger und dann hat sie irgendwann gesagt, die Gefäße sind vertauscht."
Was Laura-Jane Sinani damals nicht wusste: Etwa die Hälfte aller kindlichen Herzfehler werden in der Standard-Ultraschalluntersuchung nicht sicher erfasst. Das kann nur der hochauflösende Ultraschall. Doch den Krankenkassen ist dieses Verfahren als Routine bisher zu teuer.
Und so kommt es, dass immer noch kindliche Herzfehler zu spät erkannt werden – und so manche Kinder unnötig sterben. Aber auch, wenn das Problem rechtzeitig erkannt wird, verläuft die Geburt nach einer solchen Diagnose alles andere als normal. Entbunden werden muss in einem Herzzentrum, mit Kaiserschnitt und oft in großer Hektik.
"Die schneiden dann den Bauch auf. Und dann wird, kurz bevor das Kind aus dem Bauch gezogen wird, wird der Vorhang fallen gelassen, sodass man noch sehen kann, wie das Kind da rausgeholt wird. Und ja, dann wurde er halt abgenabelt. Dann hat die Hebamme meinen Sohn in Empfang genommen. Hat ihn mir ganz kurz ins Gesicht gehalten und ist dann verschwunden", sagt Laura-Jane Sinani.
Eine Geburt, die Spuren hinterlässt
Auf die Intensivstation und wenig später in den Operationssaal. Es folgten quälend lange Stunden der Ungewissheit: Doch alles lief glatt. Matteo hatte es geschafft. Nach einigen Tagen die heiß ersehnte Entlassung nach Hause. Ein ziemlich holpriger Start ins Leben für die junge Familie Sinani. Und: Er hat Spuren hinterlassen.
"Im Anschluss, als wir dann zu Hause waren, hatte ich schon das Gefühl, dass er sehr viel Körperkontakt braucht. Als ob er diese Zeit, die wir am Anfang nicht hatten, als ob er das nachholen müsste. Und das ist bis heute so."
Medizinisch lief alles perfekt, erzählt Matteos Mutter. Menschlich dagegen nicht.
"Wenn ich zurückblicke an diese Zeit, ist es schon so, dass für mich gar nicht die Operation meines Sohnes das Schlimmste war, sondern wirklich der Aufenthalt für mich selbst im Krankenhaus und wie ich dort behandelt wurde."
So eine Geburt bedeutet für Eltern maximalen Stress. Und nicht immer gelingt es, das Erlebte zu verarbeiten. Bis zu einem Drittel der Eltern entwickeln in dieser Krise eine posttraumatische Belastungsstörung, mit unkontrollierbaren Angstattacken, depressiven Phasen und Albträumen. Das zeigte eine Studie, die schon 2013 im "Journal of pediatric psychology" veröffentlicht wurde.
Dem könnte man durch eine psychologische Betreuung vorbeugen. Das würde aber extra Geld kosten. Geld, das keiner bezahlen will. Und so überlassen Kliniken diese Aufgabe lieber dem sowieso schon überlasteten Pflegepersonal. Denn Pflegende haben ja zwangsläufig engeren Kontakt zu den Eltern der kleinen Patientinnen und Patienten.
"Man weiß nie, wie die Operation ausgeht"
"Wenn man sein eigenes Kind in den OP bringt. Es abgibt. Und man weiß, das ist eine der heftigsten Operationen, die man an einem menschlichen Körper vollziehen kann. Dann haben die Eltern… stehen unter Strom… sind sehr, sehr emotional, sind unheimlich angespannt. Weil man nie weiß, wie geht die Operation aus."
Henning Demann ist Kinderkrankenpfleger und hat viele Jahre auf einer kinder-herzchirurgischen Intensivstation gearbeitet. Die Betreuung der Eltern kann für ihn schon deshalb nicht optimal laufen, weil das Pflegepersonal zuallererst für das Wohl der kleinen Kranken verantwortlich ist. Alleine der Überwachungsaufwand ist enorm.
"Die Kinder kommen sehr, sehr instabil auf die Station. Dann haben die Kinder unheimlich viele Kabel, die in diesem ganzen Bett verteilt sind. Das Kind ist künstlich beatmet. Wir haben eine Beatmungsmaschine, mit ganz vielen Schläuchen, mit ganz vielen Adaptern, mit ganz vielen Sensoren. Weil man unterschiedliche Vitalzeichen ableiten möchte. Und halt wirklich unter Strom steht. Hoch konzentriert ist. Und erst mal quasi die Vorgaben und die Abläufe umsetzt, um diesen Patienten zu stabilisieren."
Besonders heikel, sagt Henning Demann, sei der Moment, in dem Eltern zum ersten Mal ihr frisch operiertes Kind auf der Intensivstation sehen dürfen.
"Und man empfängt die Eltern und begleitet sie zu ihrem Kind und versucht, schon in diesem Gespräch sie darauf vorzubereiten, was sie gleich erwarten wird. Aber es ist eine ziemlich schwierige Situation gerade, wenn ein frisch operiertes Kind, wo vielleicht auch noch der Oberkörper, der Brustkorb noch geöffnet sein muss, weil es einfach zur heftigen Schwellung des Herzens kommen kann, als Folge von der Operation… dass die Eltern vorbereitet sind."
Trotzdem reagieren die meisten zutiefst schockiert auf diesen Anblick. Fühlen die Bedrohung, die Angst, das Ungewisse.
"Weil diese Geräte diese permanente Geräuschkulisse. Es sind ja noch andere Patienten in diesen großen Sälen auf den Intensivstationen. Diese Bilder, die brennen sich in die Köpfe der Eltern."
Keiner weiß genau, was ein Neugeborenes empfindet
Pflegepersonal wie Henning Demann wird in der Ausbildung zwar auf den sensiblen Umgang mit den Eltern vorbereitet, aber sie sind eben keine Psychologen.
Henning Demann: "Generell war kein Psychologe vor Ort. Ich glaube, das wäre eine super Methode ehrlich gesagt, weil sag ich mal, ausgebildete Psychologen noch mal ganz andere Kommunikationskanäle bedienen können."
Was ein Neugeborenes empfindet, wenn es sich nach der Herzoperation auf einer gleißend hellen und lärmenden Intensivstation wiederfindet, kann und mag man sich gar nicht vorstellen. Verkabelt. Allein. Ohne den nahen körperlichen Kontakt zu den Eltern.
Universitätsklinik Köln. Kinderherzchirurgie. Hier läuft ein Modellversuch, bei dem voll auf die psychologische Betreuung gesetzt wird, um Kind und Eltern vor einem psychischen Trauma zu bewahren. Wenn ein Neugeborenes auf der Intensivstation aus der Narkose erwacht, hat Musiktherapeutin Anna Fischer ihren Einsatz. Sie kennt die Rhythmen, die einem Säugling Ruhe und Vertrauen signalisieren.
Aber auch Kleinkinder und ältere Kinder, die operiert werden müssen, und natürlich ihre Eltern werden in Köln umfassend betreut. Neben der Musik – gibt es, je nach Alter, Kunst- und Gesprächstherapien. Die Psychologin Alice Schamong gehört mit zum Team.
"Wenn sie sich jetzt mal vorstellen, sie kommen ins Krankenhaus und wissen, sie müssen da jetzt drei Wochen durchhalten. Die Zähne zusammenbeißen. Das Ganze ist aber zeitlich beschränkt und danach geht ihr normales Leben weiter. Das haben Kinder nicht. Das heißt, für die ist das, was aktuell passiert, dauerhaft so. Die wissen nicht, das endet irgendwann oder das schaffe ich. Ich halte das jetzt durch. Diese Gedanken sind hier noch gar nicht vorhanden."
Auch eine massive Belastung für Eltern
Da hilft nur Ablenkung durch gezielte Beschäftigungsangebote. Ganz anders sei die Situation der Eltern.
"Die Eltern sind aber auch massiv belastet durch die schwierige Situation im Krankenhaus. Die müssen letztendlich das zulassen, dass ihre Kinder diesen Behandlungen ja unterzogen werden, obwohl man eigentlich diesen inneren Drang hat, sein Kind zu schützen. Das führt halt zu sehr, sehr starken Kämpfen und Belastungen."
Die psychologische Betreuung von Mutter und Vater beginnt bereits vor der Geburt. Sie werden gezielt darauf vorbereitet, welches emotionale Inferno auf sie zukommt, erklärt Alice Schamong.
"Dass man den Betroffenen sagt, dass die Gefühle, die sie in dieser Situation haben, total normal sind. Also die heftigen Gefühle, die sie haben, und worüber sie dann teilweise selber auch erschrecken. Dass die der Situation, dieser unnormalen Situation angemessen sind. Einfach zu wissen, dass da andere diese Situation auch so durchgestanden haben. Und, dass die das auch geschafft haben und man es auch schaffen kann."
Totaler Widerspruch in der Patientenversorgung
Die umfassende psychologische Betreuung der ganzen Familie in Köln ist richtungsweisend. Andere Zentren würden gerne mitziehen, doch die Krankenkassen finanzieren zurzeit nur eine magere psychologische Basisversorgung. Glück für die Kölner Universitätsklinik, dass sie auf zahlreiche private Spenden zurückgreifen kann.
"Laut Richtlinien gibt es eben keine Planstellen für Psychologen. Es gibt dort einen Passus, da steht, dass ein psychosozialer Mitarbeiter eben dort auf Station sein muss. Da ist aber nicht festgeschrieben, welche Qualifikation dieser haben muss. Ob das ein Sozialpädagoge, ein Psychologe oder eben jemand von einer ganz anderen Fachrichtung ist. Und es ist auch keine Stundenanzahl festgeschrieben. Das heißt: Im Extremfall könnte man eben einen Mitarbeiter für die ganze Klinik einstellen, der dann eben dort diese Station mit betreut."
Was für ein Kontrast! Auf der einen Seite die sensationellen Operationserfolge, andererseits die sträflich vernachlässigte psychische Gesundheitsvorsorge der Betroffenen. Ein Widerspruch mit Folgen!
Mit seinen zehn Jahren hat Jannes schon zahlreiche Herz-Operationen hinter sich. Eine riesige Belastung für den Hamburger Jungen – wie auch für seine Familie. Die war weitgehend auf sich selbst gestellt. Fachlich psychologischer Beistand? Fehlanzeige! Erzählt Jannes Mutter Stephanie, die ihren Nachnamen nicht im Radio hören möchte.
"Ja, das hätte ich mir gewünscht. Das, was wir bekommen hatten: Einmal kam jemand von Kinderhospiz zu uns rein. Und als Laie ist für sie Hospiz… das sind die, die sterben. Und da bin ich völlig ausgetickt. Das weiß ich noch. Weil ich so unter Anspannung stand. Da habe ich zu ihr gesagt, mein Sohn stirbt nicht. Sie sind falsch hier. Gehen sie woanders hin. Mein Sohn stirbt nicht. Mein Sohn bleibt hier. Ich habe die gar nicht zu Wort kommen lassen, weil ich nur dieses Wort Hospiz hörte. Und sie haben ja auch Todesangst um ihr Kind. Aber mehr Hilfe kam da, glaub ich, nicht."
"Das war traumatisch"
Eine Sterbebegleiterin, die offenbar aus Kostengründen die Herzchirurgie mitbetreut: ein bitteres Armutszeugnis.
"Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass das so traumatisch war, dass das auch heute noch fest in seinem Unterbewusstsein sitzt. Man merkt es daran, dass er ganz, ganz lange Zeit zum Beispiel nicht alleine in seinem Zimmer schlafen konnte, weil er nachts der festen Überzeugung war: Da kommen Menschen an sein Bett und fummeln an ihm rum. Im Krankenhaus ist es ja nun mal so, dass alle vier Stunden nachts auch noch mal jemand kommt. Dann wird hier eine Infusion gewechselt. Dann passiert da irgendwas."
Statistisch gesehen gibt es bald an jeder Schule drei bis vier Kinder mit einem angeborenen, schweren Herzfehler. Kinder, die einer besonderen pädagogischen Betreuung bedürfen.
"Er ist stark untergewichtig. Also sehr, sehr dünn. Er sieht ein bisschen blass aus. Seine Lippen sind natürlich blauer", sagt Jannes Mutter.
Typisch für herzkranke Kinder: Ihre schwere Erkrankung ist sicht- und spürbar. Das macht sie angreifbar. Jannes wurde deshalb auch gemobbt. Seine Mutter Stephanie erinnert sich.
"Das war zwei Wochen nach Schulbeginn in der ersten Klasse. Da hat irgendein Kind von zu Hause Handschellen mitgebracht. Woher auch immer dieses Kind diese Handschellen hatte. Dann haben sie dem Jannes auf dem Schulhof, auf dem Rücken, die Hände gefesselt und haben ihn bäuchlings in ein Gebüsch geschubst. Und dadurch, dass seine Hände gefesselt waren und er auch nicht die Kraft hat, kam er natürlich alleine nicht wieder hoch. Und er lag da in diesem Gebüsch und wurde da liegen gelassen. Wie Dreck. Und das hat ihn sehr mitgenommen. Und sein Spitzname war Versager. Erste Klasse. Siebenjährige Kinder. Das war ganz schlimm."
Fehlende pädagogische Konzepte
Ein krasser Einzelfall oder ein typisches Schicksal? Niemand weiß es so genau. Es gibt keine verlässlichen Daten zu den Schulproblemen von herzkranken Kindern. Spezielle pädagogische Konzepte auch nicht. Dabei führt die körperliche Schwäche der jungen Herzpatientinnen und -patienten oft zu Konzentrationsstörungen.
Sie brauchen einfach länger, um das schulische Pensum zu bewältigen. Unterstützt man sie aber und gewährt ihnen Zeit, dann werden aus den vermeintlichen Schulversagern nicht selten Akademikerinnen und Akademiker.
"Unsere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass eine Mehrheit der erwachsenen Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern im Vergleich, häufiger ein hohes Bildungsniveau erreicht."
Paul Christian Helm und sein Team vom Nationalen Register für angeborene Herzfehler haben im Rahmen einer Onlinebefragung den Lebensweg von erwachsenen Herzkindern nachgezeichnet. Ein Drittel hat einen akademischen Abschluss. Doch die Forschenden sind auch auf einen wunden Punkt gestoßen: Mit dem Übergang ins Erwachsenenleben kommt die medizinische Versorgung für diese Patientengruppe ins Stocken. Schuld auch hier: Krankenkassenbürokratie.
"Bis zum 18. Lebensjahr werden Menschen mit angeborenem Herzfehler normalerweise von niedergelassenen Kinderkardiologen oder in speziellen Herzzentren oder Universitätskliniken behandelt. Ab dem 19. Lebensjahr dürfen Patienten normalerweise eben nicht mehr vom Kinderarzt oder vom Kinderkardiologen behandelt werden."
Normale Kardiologinnen und Kardiologen aber sind für diese sehr speziellen Krankheitsbilder gar nicht ausgebildet. Kaum zu glauben, aber in der Medizinausbildung wurde einfach vergessen, dass erfolgreich operierte herzkranke Kinder ins Erwachsenenalter kommen. Etwa 280.000 sind es mittlerweile, für die keine umfassende medizinische Nachsorge bereitsteht.
"Dabei kam heraus, dass knapp über 30 Prozent zwar beim Kardiologen in Behandlung sind, aber dieser Kardiologe hatte eben nicht die spezielle Weiterbildung und Ausbildung für die Behandlung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler."
Mangelnde bis falsche Behandlung im Erwachsenenalter
Die Hälfte der Befragten wusste nicht einmal, welche Qualifikation ihre behandelnde Ärztin oder Arzt besitzt. Das ist aber wichtig. Denn wer beim falschen Behandelnden ist, wird oft auch falsch beraten.
"Wir sehen, dass bei komplexen Herzfehlern knapp zu 50 Prozent empfohlen wird, keinen Sport zu treiben. Aber selbst bei den simplen angeborenen Herzfehlern wird noch in rund 13 Prozent der Fälle sozusagen vom aktiven Sporttreiben abgeraten. Was wirklich derzeit einfach nicht mehr dem Wissensstand der aktuellen Forschung entspricht.
Denn sportliche Aktivitäten, natürlich unter ärztlicher Aufsicht, verbessern die Herzleistung und damit die Prognose. Und es kommt noch schlimmer. Viele erwachsengewordenen Herzfehlerpatienten haben offenbar resigniert und ihre kardiologische Betreuung abgebrochen. Ein unkalkulierbares Risiko, denn auch im Erwachsenenalter kommt es zu Komplikationen. Abhilfe soll jetzt eine Zusatzqualifikation für niedergelassene Kardiologinnen und Kardiologen schaffen. Ein Angebot, das bisher allerdings nur von wenigen wahrgenommen wird.
Verein "Herzkind" hilft Betroffenen
Tausende Kinder sind, trotz Herz-OP, in einem labilen Gesundheitszustand. Riskante Folgeeingriffe sind oft unumgänglich. Das bringt Probleme, die vielen Familien einfach über den Kopf wachsen. Doch wo bekommt man Hilfe? Und zwar die Hilfe, die auf die Bedürfnisse einer Familie mit herzkrankem Kind zugeschnitten ist?
"Herzkind" ist eine spendenfinanzierte Selbsthilfegruppe mit Sitz in Braunschweig. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Herzstiftung bietet der Verein ein umfangreiches Unterstützungsangebot für betroffene Familien an. Kernstück ist die telefonische Beratung.
"Derjenige, der sich Hilfe holt, das sind ja diejenigen, die bei uns anrufen. Und die, die sich Hilfe holen wollen, sind der Teil, die den ersten Schritt bereits gemacht haben."
Ina Schneider ist Geschäftsführerin des Vereins. Aufmerksam auf das Beratungsangebot werden die Eltern meist durch Flyer oder das Magazin "Herzblick", das der Verein herausgibt. Und die Eltern staunen oft nicht schlecht, welche Unterstützungsmöglichkeiten es doch schon gibt.
"Ein großes Thema ist einfach, erst mal Ansprüche durchzusetzen. Und da sind es ganz oft sozialrechtliche Ansprüche, die gesichert werden wollen: Was mache ich zum Beispiel, wenn Geschwisterkinder da sind? Wie kann ich die versorgen? Habe ich da einen Anspruch auf Haushaltshilfe? Oder kann ich mein Kind jemals in die Kita geben? Wie läuft´s mit der Schule? Brauche ich da Nachteilsausgleiche?
Um noch besser zu beraten, hat der Verein bundesweit zahlreiche Selbsthilfegruppen ins Leben gerufen.
"Wir haben 30 Kontaktgruppen. Wir haben eine Vielzahl, das sind mit Sicherheit über 100 Eltern, die sich auch für telefonische Gespräche bereit erklärt haben. Da sind wir auch sehr dankbar, dass wir da sehr tolle ehrenamtliche Kollegen haben, die uns da so tatkräftig in den Gruppen unterstützen."
Vereinsarbeit ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein
Doch angesichts des riesigen Beratungsbedarfs bleibt die Arbeit des Vereins ein Tropfen auf den heißen Stein. Und das ist durchaus tragisch. Denn Kinder mit komplizierten Herzfehlern müssen nicht selten mehrfach operiert werden. Eine enorme Belastung für die Kinder wie auch für die Eltern. Schließlich müssen sie jedes Mal wieder eine Entscheidung über Leben und Tod treffen.
"Man sieht sein Kind spielen und es sitzt auf dem Schoß und du unterschreibst, was passiert im Tod."
Die Tochter von Dörthe Schwenk hat einen kritischen Herzfehler. Riskante Operationen stehen an. Erst in der Kontaktgruppe des Vereins "Herzkind" hatte die Berlinerin, die Chance über ihre Gefühle offen zu reden.
"Das ist eine Situation, die andere, auch in meiner Familie, teilweise nicht begreifen können. Was passiert, wenn unsere Tochter mal nicht mehr ist. Und es ist halt so: Du kannst mit keinem drüber reden. Und auch manchmal so eine Situation zu haben, wo man sagt: Wäre es vielleicht besser gewesen, dieses Kind nicht zu bekommen.
Hätte man ihr vieles erleichtert. Wäre es einfacher gewesen. Ich hatte die Möglichkeit abzutreiben. Ich habe es abgelehnt, weil ich meine Tochter bekommen wollte. Und trotzdem habe ich teilweise, wenn ich meine Tochter leiden sehe und sie weinen sehe, schon die Angst oder das Gefühl, dass ich sage, war das von mir total egoistisch zu sagen: Ich bekomme jetzt ein krankes Kind, nur weil ich jetzt ein Kind haben wollte."
Man kann an der schwierigen Situation auch wachsen
Ob mit oder ohne Selbsthilfegruppe. Letztendlich müssen die betroffenen Familien selbst mit der schwierigen Situation klarkommen. Die meisten schaffen das auch. Aber was können andere von ihnen lernen? Der Kinderfacharzt Raphael Dorka ist im Rahmen eines Forschungsprojekts genau dieser Frage nachgegangen.
"Wir haben jetzt in unserer Studie eben die Eltern gefragt: Was für Momente gab es denn, die schwierig waren. Aber haben sie denn durch diese Situation auch hinzugelernt. Gab es irgendeinen Entwicklungsprozess, einen Reifungsprozess. Hat sich etwas in ihrem Leben dadurch auch ins Positive hin geändert."
Die Hälfte der befragten Eltern hat ihre Lebensperspektive grundsätzlich geändert. Mit dem Ergebnis, erklärt Raphael Dorka:
"Dass Eltern eben erfahren haben, dass sie mit einem deutlich stärkeren Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitserleben aus dem Ganzen hervorgingen. Und zwar, weil sie gemerkt haben: Sie können eben schwere Situation bewältigen. Einige verspüren eben engere Freundschaften, weil sie eben Hilfe erfahren haben durch Freunde. Die Qualität von Freundschaften wurde zum Teil stärker. Aber der Freundeskreis hat sich zum Teil verringert. Die meisten bezeichnen das aber dann auch als positiv. In den meisten Fällen hat sich auch die Paarbeziehung gestärkt und die Familie an sich, die größere Familie, ist enger zusammengewachsen.
Erfolg mit dem Podcast "Herzgedanken"
Resilienz nennt die Psychologie diese Fähigkeit, scheinbar aussichtslose Situationen zu meistern und gestärkt aus den Erfahrungen hervorzugehen. Und Resilienz ist ansteckend.
Die Begrüßung im Podcast Herzgedanken: "Moin, moin herzlich willkommen zu einem neuen Teil des Herzgedanken-Podcasts. Und was soll ich sagen: Wir haben jetzt ein Jahr den Podcast… Yuhu. Und wir haben uns gefragt: Was denkt ihr, wie viele Menschen wir in diesem einen Jahr erreicht haben?"
Es sind bis zu 7000 Menschen, die sich eine Folge der Herzgedanken anhören. Aus einer spontanen Idee ist so ein erfolgreicher Podcast geworden. Die beiden Podcasterinnen Nia und Sabrina eint ihr angeborener, schwerer Herzfehler. In ihrem Podcast berichten sie über ihren Alltag, ihre Gedanken und Hoffnungen:
"Natürlich damit auch anderen Mut geben, zu zeigen, wie wir manche Situationen gemeistert haben bzw. damit umgegangen sind, aber vielleicht können wir den einen oder anderen in manchen Situationen damit aufbauen und zeigen, dass es doch irgendwie Lösung für gewisse Wege gibt."
Nia hat ein besonders augenfälliges Handicap. Durch den Herzfehler nimmt ihr Blut zu wenig Sauerstoff auf. Und sauerstoffarmes Blut ist nicht rot, sondern tief blau.
"Durch die niedrige Sauerstoffsättigung habe ich halt fast immer blaue Lippen und hab, zum Beispiel auch ganz blaue Fingernägel, ziemlich doll."
"Für mich war das halt schon immer normal"
Nias Äußeres irritiert fremde Menschen und führt zu unschönen Erlebnissen.
"Einmal auf der weiterführenden Schule hatte ich das, dass ich in der Cafeteria von der Cafeteria-Frau angesprochen wurde: Ich soll mich doch bitte abschminken, in der fünften Klasse. Und meinen Lippenstift abmachen. Dass das jetzt viel zu doll wäre in meinem Alter. Und dann meinte ich nur zu ihr: Das ist kein Lippenstift. Das sind meine Lippen."
Normal ist das, was man selbst für normal hält. Und genau darauf setzten die Podcasterinnen, sagt Nia.
"Ich kenn das ja gar nicht, 500 Meter am Stück zu laufen, ohne Pause zu machen. So wie ein Gesunder sich gar nicht vorstellen kann, wie es ist in meinem Körper zu leben, kann ich mir nicht vorstellen, in körperlichen Aktivitäten gar nicht begrenzt zu sein, was den Körper angeht. Für mich war das halt schon immer normal."
Auch heikle Themen, wie Sexualität und Schwangerschaft, sprechen Nia und Sabrina offen an.
"Ich habe neulich mit eins, zwei Leuten geschrieben, die wirklich einen Herzfehler haben und schwanger waren. Und jetzt ein Baby bekommen haben. Und für mich ist das total faszinierend irgendwie. Weil bei mir immer gesagt wurde: Du kannst kein Kind bekommen. Du darfst kein Kind bekommen, weil das alles zu gefährlich ist. Aber das sind dann alles so Dinge, mit denen man sich beschäftigt, wahrscheinlich, wenn es so weit ist. Weil, das Leben kommt sowieso."
Es klingt paradox, aber die enormen Erfolge, die der Herzmedizin bei der Therapie angeborener Herzfehler in den letzten Jahren gelungen sind, bergen Probleme. Nicht nur, dass für verzweifelte Eltern keine angemessene Versorgungsstruktur zur Verfügung steht. Zu wenig wurde bislang auch bedacht, dass die meisten Kinder auch nach einer Herzoperation nicht wirklich gesund sind.
Das Herzproblem wird ihr späteres Leben massiv beeinflussen. Und da ist die Gesellschaft gefordert, schließlich ist sie dafür verantwortlich, dass diesen Kindern nicht nur medizinisch ein guter Start ins Leben gelingt.
"Bisher geht es mir gut. Aber ich muss halt noch manche Operation machen", sagt Jannes.
Literatur:
- Zimmerman, Meghan S., et al. "Global, regional, and national burden of congenital heart disease, 1990–2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017." The Lancet Child & Adolescent Health 4.3 (2020)
- Van Nisselrooij, A. E. L., et al. "Why are congenital heart defects being missed?" Ultrasound in Obstetrics & Gynecology 55.6 (2020)
- Franich-Ray, Candice, et al. "Trauma reactions in mothers and fathers after their infant’s cardiac surgery." Journal of pediatric psychology 38.5 (2013)
- Helm, Paul C., et al. "Transition in patients with congenital heart disease in germany: results of a nationwide patient survey." Frontiers in pediatrics 5 (2017)
- Neidenbach, R., et al. "Sind Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern ausreichend versorgt?" Zeitschrift für Herz-, Thorax-und Gefäßchirurgie 31.4 (2017)
- Helm, Paul Christian. Lebens-und Behandlungssituation von Menschen mit angeborenem Herzfehler. Diss. (2021)