Hickhack-Parade

Was ist los mit den Pop-Charts?

Der britische Sänger Ed Sheeran auf dem roten Teppich bei der Verleihung der Goldenen Kamera in Hamburg.
Ed Sheeran ist zeitgleich mit zwei Songs auf Platz eins und zwei der deutschen Singlecharts. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Christoph Möller |
Ed Sheeran ist zeitgleich mit zwei Songs auf Platz eins und zwei der deutschen Singlecharts, Drake führt in den USA die Albumcharts an, obwohl "More Life" kein Album ist, sondern eine Playlist. Welche Aussagekraft haben Charts noch angesichts von Streaming?
Als der kanadische Rapper Drake am 18. März sein neues Album "More Life" veröffentlicht, sind nicht nur seine Fans durchgedreht, sondern auch die Charts.
Alle 22 Stücke von "More Life" infiltrierten die US-amerikanischen Single-Charts, die Billboard Hot 100. Es war eine Übernahme. Fast ein Viertel der beliebtesten Songs in den USA waren von Drake. Auch in den Albumcharts: Platz 1. Dank Streaming.
"Drake's ‘More Life’ was overwhelmingly streamed, more than it was purchased."
Chris Molanphy vom "Slate Magazine" ist Chart-Analyst. Das Besondere an "More Life": Es ist eigentlich gar kein Album, sondern eine Playlist. Drake hat die Stücke kuratiert. Auf einigen ist er gar nicht selbst zu hören.
"Drake verändert das ganze Konzept, wie Musik veröffentlicht wird. 'More Life' wird zwar ganz normal in die Charts eingerechnet. Aber allmählich verändert er unsere Vorstellung davon, was ein Album alles sein kann."

Streaming als wichtigste Variable

Alben von Superstars wie Drake oder Ed Sheeran sind wie für das Streaming gemacht: Sie vermischen unterschiedlichste Stile. Einzelne Tracks funktionieren in ganz verschiedenen Genre-Playlists. Das treibt die Abrufzahlen in die Höhe. Und die sind wichtig, um in die Charts zu kommen.
Denn Streaming ist, zumindest in den Hot 100, die wichtigste Variable, um gelistet zu werden. Neben Radio-Airplays und klassischen Verkäufen.
"Das Neue beim Streaming ist, dass die Nutzer den Song zwar abrufen, ihn aber nicht mehr besitzen. Und je wichtiger Streaming wird, desto größer ist auch der Anteil zur Berechnung der Charts. In einer typischen Woche liegt der Streaming-Anteil bei knapp 50 %."
Die Billboard Charts wie auch die offiziellen deutschen Charts zeigen also immer mehr, was Fans wirklich hören. Nicht bloß, was sie einmalig kaufen.
"Die Charts zeigen also nicht mehr nur, dass ein Song gekauft wurde, sondern auch, wie häufig er Woche für Woche angehört wird."

Radio-Airplays spielen keine Rolle für die Charts

Für die Ermittlung der deutschen Charts spielen Radio-Airplays keine Rolle. Streams werden gewertet. Aber nur, wenn sie von einem bezahlten Premium-Account kommen.
"Bei Streaming funktioniert das über eine Formel. Also, man weiß den Preis eines Abos bei einem Streaming-Anbieter, man kennt die durchschnittliche Nutzung und daraus lässt sich ein durchschnittlicher Wert eines Streams errechnen. Und dann lässt es sich auf ein Kaufverhalten zurückführen wie bei Download und physisch."
Maik Hausmann ist Chartermittler bei GfK Entertainment, eine Gesellschaft, die im Auftrag des Bundesverbandes Musikindustrie die Charts berechnet.
"Die beiden stärksten Tracks, die gestreamt wurden, werden nicht gewertet. Dann die folgenden zehn, daraus ein Mittelwert gebildet, mal zwölf, mal ein Cent. Das ergibt den Wert für die Beimischung Album-Charts. Also, ein bisschen kompliziert und für einen Außenstehenden schwer zu verstehen."
Das Regelwerk der deutschen Charts sieht aus wie ein komplizierter bilateraler Vertrag. Erst seit 2016 fließen Streaming-Daten in die Album-Charts mit ein. Bei den Single-Charts schon seit 2014.
Die Formeln zur Berechnung werden zwar regelmäßig neu diskutiert; die Streamingzahlen steigen aber so rapide, dass auch in Deutschland lange unantastbar geglaubte Chart-Rekorde eingestellt werden.
Ed Sheeran etwa platzierte, als erster Künstler überhaupt, gleichzeitig sechs Singles in den deutschen Top 20. Alle 16 Stücke der Deluxe-Version seines Albums "Divide" eroberten die Top 100.
"Also, normal ist es sicherlich nicht. Außergewöhnlich war bei Ed Sheeran sicherlich, dass er das auf zwei Wochen, also in der zweiten Woche wiederholen konnte."

Deutscher Musikmarkt eher behäbig

Die deutschen Charts sind im Vergleich zu den Billboard-Charts eher träge. Sie reagieren weniger auf kurze Hypes. Streams werden noch nicht so stark mit eingerechnet wie in den USA. Und: Der deutsche Musikmarkt ist die alte Diva unter den Musikmärkten. In kaum einem anderen Land werden noch so viele CDs gekauft.
Trotzdem: Musik wird immer mehr gestreamt. Das Album als abgeschlossenes Format löst sich auf, Playlisten werden wichtiger.
Verschiedene Musik-Apps sind auf einem iPad zu sehen.
Streamingzahlen wirbeln die Charts durcheinander.© picture alliance / dpa / Ole Spata
Charts sind aber weiterhin extrem bedeutend, besonders für die Musikindustrie. Was gelistet ist, verkauft sich besser. Deshalb werden die Labels kreativ: Die Doppel-Single von Ed Sheeran war eine ungewöhnliche, aber erfolgreiche Veröffentlichungsstrategie.
Der Rapper Future ging noch einen Schritt weiter: Er veröffentlichte kurz hintereinander gleich zwei Alben – beide sind in den USA auf Platz Eins gelandet. Noch ein Rekord.

Charts wurden schon immer manipuliert

Geht das noch mit rechten Dingen zu – oder ist das schon Manipulation?
"Immer wenn jemand die aktuellen Charts suspekt findet, sage ich: Guck doch mal in die Geschichte. So lange es Charts gibt, hat die Musikindustrie versucht, sie zu manipulieren. Es war sogar sehr einfach. Du konntest einfach Leute bezahlen, die dann falsche Angaben zu den Radio-Airplays oder Plattenverkäufen gemacht haben."
Heute hingegen sei es viel schwieriger, zu manipulieren.
"Ich glaube, wir sehen einfach, dass einige Labels das System sehr clever nutzen. Ich würde das nicht Korruption nennen."
In die Charts zu kommen ist wie ein Strategiespiel. Wer die beste Taktik hat, gewinnt. Neue, kreative Veröffentlichungsformate stellen die Charts auf die Probe. Es wird experimentiert. Pop-Künstlerinnen und –Künstler erschaffen eigene Veröffentlichungsästhetiken, die zu ihrer Inszenierung dazu gehören.
So lange das nicht heißt, dass Alben exklusiv veröffentlicht werden, kann das für Fans eigentlich nur gut sein.
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