"Zittau ist eine sehr lebenswerte Stadt"
Umgeben von der Tschechischen Republik und Polen, liegt Zittau im südöstlichen Sachsen. In unserer Reihe "Hidden Champions" berichtet Bastian Brandau über Zittau, eine Stadt mit Potential in ökonomischer wie in touristischer Hinsicht.
"Wohl dem, der am Gebirge wohnet" – es ist ein Lied aus und über die Stadt Zittau, das Türmer Felix Weickelt an diesem Mittag über die Dächer seiner Heimatstadt bläst.
Weickelt, 27, hat Musik und Deutsch auf Lehramt studiert. Seit knapp drei Jahren ist er Türmer der St-Johannis-Kirche in Zittau. Er lebt in einer Wohnung im Turm, etwa 55 Meter über der Stadt. Dreimal am Tag spielt er Choräle und Volkslieder für Touristen und Zittauer. Weickelt kennt die Aussicht bei jedem Wetter und bei jeder Tages- und Nachtzeit. Jetzt blickt er nach Süden, über den Marktplatz, Richtung Tschechische Republik:
"Auf der Seite gibt es das Gebirge, dafür gibt es hier keine Türme, auf der Nord-Seite, Nordost-Seite, haben wir die Altstadtsubstanz, mit der frischsanierten Klosterkirche und den vielen anderen Türmen. Dafür dann eben auch die erneuerbaren und die alten Energien nebeneinander."
Was fehlt, sind junge Leute
Weickelt zeigt auf die Windräder neben dem einer Mondlandschaft gleichenden Kohletagebau in Polen. Auch bei Zittau wurde zu DDR-Zeiten Braunkohle abgebaut, die Umweltbelastung machte das Leben hier irgendwann schwer erträglich. Die Menschen demonstrierten auch hier gegen das DDR-Regime, bis es zusammenbrach. Über 25 Jahre später hat sich die historische Innenstadt herausgeputzt. Was fehlt, sind junge Leute. In Zittau kannst Du nichts werden, hieß es lange. Tausende sind weggezogen nach 1990 aus der Stadt, die eine Infrastruktur für 50 000 Menschen hätte.
Es wohnen hier heute rund 26 000. Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, umso häufiger sieht man leerstehende, verfallende Häuser. Türmer Felix Weickelt hat sich bewusst entschieden, nach seinem Studium in Dresden zurückzukommen:
"Zittau ist eine sehr lebenswerte Stadt, mit sehr vielen Möglichkeiten. Auch eine Stadt, die noch nicht fertig ist. Das sieht man einerseits an den Denkmälern, die dringend darauf warten, dass sich ihnen jemand mit Liebe und auch ein bisschen Geld zuwendet, aber es ist auch eine Stadt, in der man ganz viel machen kann."
Man kann zum Beispiel sein eigenes Bündnis gründen und mit 40 Oberbürgermeister werden. So hat es Thomas Zenker gemacht. Zenker ist 1975 in Zittau geboren, hat in Berlin und Paris studiert und gearbeitet. Der Familie wegen zog er wieder zurück ins Dreiländereck. Gemeinsam mit Freunden gründete er die Wählervereinigung "Zittau kann mehr." Die traf einen Nerv in der konservativ dominierten Region. Nach dem Einzug in Stadtrat und Kreistag wurde Zenker 2015 zum Oberbürgermeister gewählt, empfängt nun im restaurierten Rathaus direkt am Marktplatz:
"Wenn ich aus meinem Fenster schaue, dann sehe ich erstmal unseren prachtvollen Marktplatz selbstverständlich, der mit einigen wirklich tollen barocken Bürgerpalästen umsäumt ist. Dann sehen Sie aber auch die Herausforderung, die unsere Stadt bewegt. Sie sehen hier einen recht ansprechenden Markt, wie ich finde, aber auch ein recht hohes Durchschnittsalter, was aufgrund der Ferienzeit ein bisschen niedriger ist, als das ich sonst sehe. Aber das ist tatsächlich eines unserer Themen. Es gibt viele Menschen, die unsere Innenstadt nutzen, die sind aber zum größten Teil die Älteren, die Zeit dafür haben. Das ist tatsächlich ein typisches Bild für unsere Stadt."
Mietpreise bei drei bis vier Euro pro Quadratmeter
Das Zenker gern ändern würde. Er würde gern diejenigen, die einst weggezogen sind, von einer Rückkehr nach Zittau überzeugen. Und andere gleich dazu. Er zählt die Argumente auf: Im restaurierten Zittau und im ländlichen Umland lebe es sich gut günstig, die Mietpreise liegen bei drei bis vier Euro pro Quadratmeter. Sport- und Freizeitmöglichkeiten direkt vor der Haustür. Bildungseinrichtungen seien vorhanden.
"Und wir haben inzwischen eine gefestigte, mittelständige Industrie, die dringend Fachkräfte benötigt, und zwar qualifizierte Fachkräfte, sodass wir eigentlich auf eine Zeit zusteuern, dass man sagen kann, es wird einfacher, uns selbst zu vermarkten, aber wir müssen die Überzeugungsarbeit liefern, dass die Leute auch sagen: Ja, da gehe ich hin."
Denn, auch das ist Zenker bewusst: Die jungen, Qualifizierten zieht es in die Großstädte. Eine Stunde und zwanzig Minuten dauert die schnellste Zugverbindung nach Dresden, mit dem Auto ist man länger unterwegs. Problematisch auch für die Wirtschaft. Derzeit setzt sich Zenker gemeinsam mit anderen Politikern der Oberlausitz für eine bessere Anbindung nach Berlin ein. Entscheidend ist für ihn aber der Blick in die andere Richtung:
"Wir haben direkt vor der Nase eine tschechische Boomtown, Liberec, früher der deutsche Name Reichenberg ist immer noch sehr populär. Ich komme gerade von einer Eisernen Hochzeit, die von jenseits der Grenze vertrieben worden sind, dann hat es sie in unsere Region gespült. Und die haben mir gerade aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt, wo es ganz normal war, dass Deutsche eben in Reichenberg gearbeitet haben, dass Reichenberger hier bei uns gearbeitet haben, dass in Kratzau, heute Krastava, die Ausbildung gemacht wurde und in dem kleinen Ort daneben die Schule.
Wenn sich das wieder normalisiert, wenn auch das Gefälle mal weggeht, und natürlich haben wir unterschiedliche Lohnsituationen, dann haben wir hier ein Entwicklungschance, die haben andere nicht, weil so viel entwickelt werden muss."
Dabei soll die Hochschule eine entscheidende Rolle spielen. Als Nachfolger der DDR-Ingenieurhochschule feiert die Hochschule Zittau/Görlitz in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Der Campus befindet sich fußläufig am Rande der Zittauer Innenstadt. Nicht denkbar sei die Hochschule ohne die engen Beziehungen in die Nachbarländer, sagt Rektor Friedrich Albrecht.
"Görlitz, eindeutig, liegt auf der Achse Dresden-Breslau, dort ist ganz stark der polnische Bezug auch gegeben, während hier in Zittau ganz stark der tschechische Bezug gegeben ist. TU Liberec haben wir hier um die Ecke, haben wir ganz enge Beziehungen und Verbindungen, und in Görlitz ist es dann der Weg nach Breslau, der dann auch nicht mehr weit ist zu den dortigen Einrichtungen, TU Breslau."
Beim Bachelor "Information and Communication Management" absolvieren die Studierenden jeweils ein Jahr in Polen, Tschechien und Deutschland. Sehr gut entwickelt seien auch die Austauschprogramme nach Mittel –und Osteuropa, etwa nach Kasachstan und Russland.
Ein Farbklecks seien die gut 1500 Studierenden am Standort Zittau, sagt Friedrich. Sichtbar, aber dennoch weniger das Straßenbild prägend als in einer klassischen Universitätsstadt.
"Das andere ist, dass wir natürlich die akademisch qualifizierten anlocken und sie letztendlich auch zu einem gewissen Anteil für die Region binden und damit auch den Fachkräfte-Nachwuchs im akademischen Bereich vom Ingenieur bis zum Sozialarbeiter dann auch gewährleisten."
Der nächste Strukturwandel steht an
Anders als während der Umstrukturierungsphase nach 1990 könne heute praktisch jeder Akademiker in der Region eine Arbeit finden, sagt Albrecht. Und mit dem bevorstehenden Ende der Braunkohleförderung in der Lausitz steht der nächste Strukturwandel an. Zaghaft geht die sächsische Landesregierung diesen an, aber bei einem sind sich alle einig: Bildung und Bildungseinrichtungen werden eine entscheidende Rolle spielen. Dessen ist sich auch der Rektor bewusst:
"Das Thema Strukturwandel wird uns beschäftigen, sowohl jetzt aktiv im Sinne von Fachkräftebedarfssicherung, aber auch im Sinne von Auseinandersetzung, wie wird sich die Lausitz weiterentwickeln. Großes Thema. Für die nächsten 20, 30 Jahre."
Zweieinhalb Jahre stand das "Klosterstübl" leer, seit einigen Wochen ist wieder Musik unter dem Gewölbe im Erdgeschoss. La Casa Vecchia hat der Berliner Gastronom Avdi Limani sein erstes eigenes Restaurant genannt, das er in der Zittauer Innenstadt eröffnet hat.
"Mein Bruder hat die Annonce im Internet gesehen, und hat sich das Ganze angeschaut und dann haben wir entschieden, dass hier eine italienische Gaststätte fehlt."
Zu laut, zu teuer sei Berlin geworden, erzählt Limani, das sei in Zittau anders. Und die Behörden hätten sie hier mit offenen Armen empfangen. Limani führt das Restaurant mit mehreren Brüdern und Cousins. Er sei zufrieden mit der Resonanz nach einigen Wochen. Es sehe so aus, als würden er und seine Familie hier bleiben.
"Ja, auf jeden Fall. Vielleicht werden wir in der Zukunft auch Zittauer, uns integrieren."