"Hier brauchen wir auch ein Umdenken"

Wolfgang Tietze im Gespräch mit Andreas Müller |
Wolfgang Tietze, Professor für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin, fordert Veränderungen in der Früherziehung. So wäre es beispielsweise ein "Fortschritt, wenn wir mehr Männer in den Kitas hätten", sagte Tietze.
Andreas Müller: Tja, ein ehemaliger Maurer als Erzieher in Brandenburg. Als ich von dem Vorschlag von Bildungssenator Jürgen Zöllner hörte, musste ich sofort an preußische Zeiten denken, als man zwar eine Schulreform einführte, die aber nichts kosten soll – klingt sehr vertraut. Und so wurden alte Soldaten, Tagelöhner und jawohl, auch damals schon Handwerker zu Schulmeistern gemacht. Herr Professor Tietze, was halten Sie von dieser Idee des Berliner Bildungssenators Jürgen Zöllner?

Wolfgang Tietze: Also zunächst mal wäre es natürlich ein wirklicher Fortschritt, wenn wir mehr Männer in den Kitas hätten. Je jünger die Kinder sind, desto weiblicher die Erziehung, das ist ja leider so, und unseren Kindern fehlen natürlich männliche Modelle. Es gibt übrigens schon aus den 90er-Jahren einen Vorschlag der EU, dass jedes EU-Land wenigstens 20 Prozent des pädagogischen Personals in den Kitas als Männer halten sollte.

Müller: Also mehr Männer in die Kitas, das ist sicherlich nicht schlecht, aber kann man denn wirklich davon ausgehen, dass die meisten den Erzieherberuf als Berufung, wie der Junge, wie wir es eben gehört haben, also wirklich als Berufung sehen und nicht einfach nur als Job, dass man sich umstellen lässt: Dann mache ich eben Erzieher.

Tietze: Ich glaube, dass diese Frage nicht geschlechtsspezifisch ist. Wir brauchen – ob das weibliche Erzieherinnen sind oder männliche Erzieher – wir brauchen in jedem Fall ganz engagierte Menschen, Menschen, die kleine Kinder lieben, die wissen, mit ihnen umzugehen, die auch den täglichen Lärm gut ertragen können, die einfach ein Herz für Kinder haben, zugleich aber auch gut ausgebildet sind.

Und das ist ganz entscheidend, denn es geht von Anfang an auch um Bildung der Kinder, nicht nur, sie irgendwo nett zu beschäftigen oder sie zu bewahren. Und von daher stellt sich natürlich jetzt auch im Hinblick auf die Ausbildung oder Nachqualifizierung von Männern und Umqualifizierung die Frage: Ist diese Qualifizierung so, dass wir die männlichen Erzieher dann so auf die Kinder loslassen können? An dieser Stelle muss man wirklich sagen, es hängt davon ab, ob die Nachqualifizierung oder die Umschulung wirklich so ist, dass sie ein Äquivalent für eine ursprüngliche Erzieherausbildung also darstellt.

Müller: Ganz neu ist das ja auch nicht, wir haben ja immerhin schon jemanden gefunden, auch wenn wir lange suchen mussten, der diese Umschulung gemacht hat. Wo sollen die eigentlich herkommen, die Männer, wo sollen die qualifiziert werden?

Tietze: Es ist also so, dass sich gewissermaßen leider zu wenige junge Männer für eine ursprüngliche Erzieherausbildung melden, und ich finde es eigentlich gar nicht schlecht, wenn gewissermaßen gestandene Männer, die eine Berufsausbildung hinter sich haben, sich dieser Frage stellen und ernsthaft geprüft für sich selbst dann sagen: Ja, das ist etwas für mich. Und dann muss es natürlich eine gründliche Ausbildung also geben.

Wir haben ein Problem, und an dieser Stelle habe ich eben auch einen gewissen Verdacht, dass man zwei Dinge miteinander verkoppelt: auf der einen Seite männlichen Erziehernachwuchs zu schaffen, auf der anderen Seite sozusagen den Arbeitsmarkt zu entlasten.

Und man muss also natürlich gucken, dass man nicht jetzt vorrangig innerhalb einer Klientel schöpft, die sonst also auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist, vielleicht auch nicht über hinreichende Qualifikationen verfügt, und nach dem Motto: Na ja, für kleine Kinder ist alles gut genug. Das wäre fatal.
Müller: Also allein in Berlin – wir reden jetzt mal nur kurz von Berlin –, so müssen in den nächsten Jahren 1800 zusätzliche Stellen geschaffen werden. Sie, Herr Tietze, fordern schon lange mehr Qualität in den Kitas. Unter anderem sollen Leiterinnen einer Kita wenn möglich einen Hochschulabschluss haben.

Es soll mehr Gehalt für Erzieher, Erzieherinnen geben. Also wir haben eben gehört, 2000 Euro brutto, das ist nun wahrlich nicht viel. Zunächst mal die Frage: Woher soll die Qualität kommen? Da ist doch bestimmt eine große Lücke zwischen dem, was jetzt gefordert wird, und was momentan überhaupt ausgebildet wird?

Tietze: Erziehung ist eine Humandienstleistung, und (…) Qualität hängt natürlich sehr stark ab von dem, was die Personen, die sie machen müssen, tatsächlich können. Was wir brauchen, ist eine berufs- und tätigkeitsbegleitende Weiterqualifizierung. Man muss hier dem Personal Anreize bieten, man muss Gelegenheiten geben den Einrichtungen, dass sich eine Einrichtung als Ganze weiterentwickeln kann, einschließlich Köchin, einschließlich Hausmeister, und am Ende, dass wir so etwas haben wie eine pädagogische Prüfung.

Wir haben ein pädagogisches Gütesiegel entwickelt, das Deutsche-Kindergarten-Gütesiegel, was auf der Prüfung einer Kita beruht, sodass auch Eltern dann am Ende sehen können, ja, ich schicke mein Kind in eine Kita, die modernen, internationalen Standards genügt.

Müller: Aber wer soll es bezahlen? Wir haben ja erlebt in den 90er-Jahren, es gab den Anspruch auf einen Kindergartenplatz, und die wurden auch geschaffen, und gleichzeitig sank die Qualität der Betreuung, das war spür- und messbar, wenn man so will. Wie will man erst das, was Sie fordern, was ja auch richtig ist, bezahlen und andererseits dieses Absinken der Qualität verhindern?

Tietze: Wir haben mal eine Kalkulation gemacht: Um Qualität zu sichern und auch zu überprüfen, würden Kosten entstehen pro Kind und Monat von rund zwei Euro. Wenn wir jetzt mal annehmen, größenordnungsmäßig, ein Kita-Platz kostet im Monat 400 Euro, und wir würden zwei Euro zusätzlich für qualitätssichernde Maßnahmen ausgeben, dann sieht man, mit wie wenig Geld wir viel erreichen könnten.

Und kein Industriebetrieb, der Qualitätsprodukte herstellen muss, würde sich mit so einer niedrigen Rate der Qualitätssicherung zufriedengeben können. Also hier brauchen wir auch ein Umdenken, weil die frühen Jahre für die Kinder entscheidend sind. Wir haben eine Studie gemacht, eine bundesweite Studie, die zeigt, die Qualitätsunterschiede zwischen den Einrichtungen machen bis zu einem Jahr Entwicklungsunterschied bei den Kindern aus.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Wolfgang Tietze von der FU Berlin über den Vorschlag, Quereinsteiger, darunter auch Handwerker, als Erzieher in Kitas zu beschäftigen und natürlich auch über die Qualität unserer Kitas. Ich habe am Anfang Preußen erwähnt, wo 1717 eine allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Der damalige König Friedrich Wilhelm der Erste veranlasste diese Reform.

Er sei in der Unwissenheit der Landbevölkerung eine Gefahr für die Entwicklung seines Staates. Also das war klug und vorausschauend gedacht. Wie erklären Sie sich eigentlich diesen mitunter doch planlos wirkenden Umgang der heutigen Politik mit dem Thema der Früherziehung? Stets wird ja eigentlich nur über Hochschulförderung debattiert.

Tietze: Na ja, es wird nicht nur über Hochschulförderung debattiert, aber wir haben schon eine gewisse Schieflage. Es leuchtet mir nach wie vor nicht ein, warum ein Hochschulstudium frei ist, dagegen ein Kita-Platz Geld kostet.

Ein Hochschulstudium ist immerhin doch nach wie vor für eine gewisse Elite also da, während die grundlegende Bildung in einer Kita für alle Kinder da sein soll. Ich spreche mich nicht jetzt damit notwendigerweise für Studiengebühren aus, nur ich sage, hier gibt es eine gewisse Schieflage.

Und wir müssen von den Lippenbekenntnissen wegkommen, dass wir in Sonntagsreden Bildung fordern, für alle, auch für den Kita-Bereich und de facto aber nicht das hinreichende Geld bereitstellen. Es gibt viele Untersuchungen, gerade auch aus dem Ausland, die zeigen, dass die frühe Investition in Bildung einen großen Kosten-Nutzen-Effekt hat. Gewissermaßen von allen Programmen, die wir anbieten, die Mittel, die in die Früherziehung, in die frühe Förderung der Kinder investiert werden, diese Mittel haben die stärksten und die nachhaltigsten Effekte.

Müller: Fehlt es da einfach an einer Lobby oder warum ist dort so viel, ja, Planlosigkeit und Lethargie in der Politik?

Tietze: Ich glaube, einmal ist ein Punkt der, dass das Bildungswesen im Früherziehungsbereich stark zersplittert ist. Also wir müssen sehen, dass die frühe Bildung zu einer allgemeinen staatlichen Aufgabe wird, die auch finanziell entsprechend auf Dauer gesichert wird, und auch, dass natürlich die unterschiedlichen Träger – wir haben ja eine sehr, sehr bunte Trägerlandschaft – in die Pflicht genommen wird, entsprechend qualitativ gute Plätze bereitzustellen.

Müller: Das war der Bildungsforscher Wolfgang Tietze, Professor für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin. Haben Sie vielen Dank!

Tietze: Gerne!