"Hier noch London-Atmosphäre einbauen"
Bekannt wurde Wolf Haas durch die Krimis mit dem Privatdetektiv Brenner. Aber der Österreicher schreibt auch Brenner-freie Bücher: In "Verteidigung der Missionarsstellung" spielt er raffiniert, frech und gekonnt mit den Möglichkeiten des Romans.
Als der Österreicher Wolf Haas 2006 seinen Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" veröffentlichte, war die Spannung groß. Denn drei Jahre zuvor hatte Haas, so schien es, seine so originelle Serie um den Ermittler Simon Brenner abgeschlossen. Das Experiment, etwas Neues zu wagen, gelang; der rein als Dialog angelegte "Wetter"-Roman wurde mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet, und niemand nahm es dem Autor übel, dass er 2009 Detektiv Brenner eine famose Wiederauferstehung feiern ließ.
In "Verteidigung der Missionarsstellung" wagt sich Haas erneut auf brennerfreies Terrain, und er tut dies erneut mit Witz und Bravour. Klassischen realistischen Erzählformen, dem "Prosagatsch" (so Haas), seit jeher fernstehend, entwickelt Haas einen von 1988 bis 2009 reichenden Plot, der nach und nach in einzelne Bestandteile zerfällt. So obliegt es dem Leser, sich darauf einen Reim zu machen. Der Roman setzt am Greenwich Market in London ein, wo der 23-jährige Benjamin Lee Baumgartner den Reizen einer Burgerverkäuferin erliegt, die – so vermutet es zumindest lange Zeit die zweite Hauptfigur, ein Sprachwissenschaftler und Schriftsteller namens Wolf Haas – alsbald seine Frau wird.
Baumgartners Londoner Begegnung steht freilich unter ungünstigen Vorzeichen, denn in England grassiert die Rinderkrankheit, und wie von fatalen Mächten vorherbestimmt, steht Baumgartners Leben fortan unter pandemischen Vorzeichen. 2006, als er sich in Peking in eine niederländische Übersetzerin verliebt, schrillen dort die Alarmglocken der Vogelgrippe, und drei Jahre später wird er, als er sich in den USA auf die Fährte seines (vermeintlichen) Vaters, eines (vermeintlichen) Indianers, begibt, als erstes Opfer der Schweinegrippe registriert.
Haas’ "Verteidigung der Missionarsstellung" – der Titel bezieht sich auf ein gleichnamiges Gedicht der Figur Haas und auf die Überlegung, dass die herkömmlichste aller sexuellen Praktiken so aufwändig bezeichnet wird – ist ein hochreflexiver Roman-im-Roman, der spielerisch sprachphilosophische Theorien (von Alfred Tarski oder B. L. Whorf) einbezieht, mit grafischen Elementen arbeitet, die man aus der Konkreten Poesie (über die Wolf Haas promoviert hat) kennt, Seitenzahlen aus der Fußzeile nach oben wandern lässt und in eckigen Klammern Notizen des Autors simuliert, die diesen dazu auffordern, realistische Details ("Hier noch London-Atmosphäre einbauen") nachzureichen, Ghostwriter anzustellen, "Lebensgeschichten zusammenzuschustern" oder Passagen aus dem Internet – Helene Hegemann lässt grüßen – "herunterzuaxoloteln".
Fast nichts an den Lebens- und Liebesgeschichten, von denen der Roman am Anfang ausgeht, stimmt; kausale Zusammenhänge werden – ein Leitthema des Romans – wohl oft überschätzt. Und nicht zuletzt: Dass Umschlag und Überschriften des Buchs aus der Schrift "Alte Haas Grotesk" gesetzt sind, gehört zu seinen zahllosen Finessen.
Kaum ein anderer Gegenwartsautor spielt so frech und gekonnt mit den Möglichkeiten des Romans, und allein deshalb ist es unerklärlich, warum die Jury des Deutschen Buchpreis dieses Buch ignoriert hat.
Rezensiert von Rainer Moritz
Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
239 Seiten, 19,90 Euro
In "Verteidigung der Missionarsstellung" wagt sich Haas erneut auf brennerfreies Terrain, und er tut dies erneut mit Witz und Bravour. Klassischen realistischen Erzählformen, dem "Prosagatsch" (so Haas), seit jeher fernstehend, entwickelt Haas einen von 1988 bis 2009 reichenden Plot, der nach und nach in einzelne Bestandteile zerfällt. So obliegt es dem Leser, sich darauf einen Reim zu machen. Der Roman setzt am Greenwich Market in London ein, wo der 23-jährige Benjamin Lee Baumgartner den Reizen einer Burgerverkäuferin erliegt, die – so vermutet es zumindest lange Zeit die zweite Hauptfigur, ein Sprachwissenschaftler und Schriftsteller namens Wolf Haas – alsbald seine Frau wird.
Baumgartners Londoner Begegnung steht freilich unter ungünstigen Vorzeichen, denn in England grassiert die Rinderkrankheit, und wie von fatalen Mächten vorherbestimmt, steht Baumgartners Leben fortan unter pandemischen Vorzeichen. 2006, als er sich in Peking in eine niederländische Übersetzerin verliebt, schrillen dort die Alarmglocken der Vogelgrippe, und drei Jahre später wird er, als er sich in den USA auf die Fährte seines (vermeintlichen) Vaters, eines (vermeintlichen) Indianers, begibt, als erstes Opfer der Schweinegrippe registriert.
Haas’ "Verteidigung der Missionarsstellung" – der Titel bezieht sich auf ein gleichnamiges Gedicht der Figur Haas und auf die Überlegung, dass die herkömmlichste aller sexuellen Praktiken so aufwändig bezeichnet wird – ist ein hochreflexiver Roman-im-Roman, der spielerisch sprachphilosophische Theorien (von Alfred Tarski oder B. L. Whorf) einbezieht, mit grafischen Elementen arbeitet, die man aus der Konkreten Poesie (über die Wolf Haas promoviert hat) kennt, Seitenzahlen aus der Fußzeile nach oben wandern lässt und in eckigen Klammern Notizen des Autors simuliert, die diesen dazu auffordern, realistische Details ("Hier noch London-Atmosphäre einbauen") nachzureichen, Ghostwriter anzustellen, "Lebensgeschichten zusammenzuschustern" oder Passagen aus dem Internet – Helene Hegemann lässt grüßen – "herunterzuaxoloteln".
Fast nichts an den Lebens- und Liebesgeschichten, von denen der Roman am Anfang ausgeht, stimmt; kausale Zusammenhänge werden – ein Leitthema des Romans – wohl oft überschätzt. Und nicht zuletzt: Dass Umschlag und Überschriften des Buchs aus der Schrift "Alte Haas Grotesk" gesetzt sind, gehört zu seinen zahllosen Finessen.
Kaum ein anderer Gegenwartsautor spielt so frech und gekonnt mit den Möglichkeiten des Romans, und allein deshalb ist es unerklärlich, warum die Jury des Deutschen Buchpreis dieses Buch ignoriert hat.
Rezensiert von Rainer Moritz
Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
239 Seiten, 19,90 Euro