Großbritannien am Rande einer Verfassungskrise
Bevor die britische Regierung den Austritt aus der EU beantragen darf, muss das Parlament noch einmal abstimmen. Dieses Urteil eines Londoner Gerichts sorgt in Großbritannien seit Tagen für Zündstoff. Manche befürchten schon einen Volksaufstand.
Die Fotos auf der Titelseite der "Daily Mail" wirken wie Steckbriefe. Gezeigt werden die drei Richter des High Court in roter Robe mit Perücke. Darunter steht in großen Lettern "Enemies of the People", "Volksfeinde".
"Ich war entsetzt, als ich die Zeitung sah. Das hat mich an Robert Mugabe in Simbabwe erinnert", empört sich Dominic Grieve, er war früher Generalstaatsanwalt. Andere brandmarken die "Daily Mail" als "faschistisch". Aber nicht nur die Richter geraten ins Fadenkreuz des Volkszorns, noch mehr die Investmentbankerin Gina Miller, deren Klage vor dem High Court alles ausgelöst hat.
"Man droht mir, dass ich enthauptet oder von einer ganzen Gang vergewaltigt werde", berichtet die dunkelhäutige, in Britisch-Guayana geborene Frau. "Ich bin kein Mensch, sondern ein Primat. In meiner Umgebung haben Menschen richtig Angst, das sollte uns beschämen."
Das Urteil vom Donnerstag sorgt für heftigste Auseinandersetzungen auf der Insel, noch bevor die Folgen ganz klar sind. Die Brexit-Befürworter befürchten, dass das Parlament den Brexit verhindern will. Die Remainer dagegen beteuern, sie akzeptierten den Volkswillen, es ginge nur um das Wie des Brexits.
"Es gibt eine politische, reiche herrschende Elite in unserem Land, die das Ergebnis des Referendums nicht akzeptieren will", erklärt Nigel Farage, der Übergangschef der rechtspopulistischen UKIP. Es falle seiner Partei schwer, der britischen Justiz zu vertrauen. "Das kann den größten politischen Volksaufstand auslösen, den wir je hatten."
Theresa May hat Angst vor Neuwahlen
Premierministerin Theresa May aber schreckt zunächst ein anderes Szenario: Sie verliert auch in der nächsten Instanz und im Unterhaus verweigern ihr dann Teile der eigenen Partei die Gefolgschaft. Das hätte fast unweigerlich Neuwahlen im kommenden Frühjahr zur Konsequenz. Schon jetzt ist ihr Ziel, bis Ende März den Antrag auf Austritt aus der EU zu stellen, in höchster Gefahr.
"Alle Mitglieder von Unter- und Oberhaus müssen sich darin erinnern, wie der Volksentscheid ausgegangen ist", fordert die Premierministerin. "Ich will das Beste für unser Land erreichen, um im EU-Binnenmarkt Handel zu treiben."
Ein Tory-Abgeordneter hat jetzt aus Protest gegen Mays Brexit-Politik seinen Rücktritt erklärt: Stephen Philipps war zwar für den Austritt aus der EU, forderte aber auch die Beteiligung des Parlaments. Einerseits stand ganz groß auf den Bannern der Brexiteers die Souveränität des britischen Parlaments, andererseits hatte das Parlament mit 6:1-Mehrheit für den Volksentscheid gestimmt.
Für den Brexit-Vorkämpfer Ian Duncan Smith droht jetzt eine schwere Verfassungskrise: "Wenn das Parlament Nein zu Artikel 50 sagt und das britische Volk Ja – wer ist dann der Souverän?"