Hightech-Prothesen

Die Kraft der Gedanken

Sebastian Reul hatte vor seinem Abitur einen Unfall als Beifahrer. Er ist vom Hals abwärts gelähmt. Beim Cybathlon wird er ein Computerspiel mit seinen Gedanken steuern, es ist eine von sechs Disziplinen des Wettbewerbs.
Sebastian Reul hatte vor seinem Abitur einen Unfall als Beifahrer. Er ist vom Hals abwärts gelähmt. Beim Cybathlon wird er ein Computerspiel mit seinen Gedanken steuern, es ist eine von sechs Disziplinen des Wettbewerbs. © Piotr Heller
Von Piotr Heller |
Sebastian Reul ist seit einem Autounfall querschnittsgelähmt. Nun trainiert er, ein Computerspiel nur mit seinen Gedanken zu steuern. Irgendwann könnte ihm diese Technologie ein Stück Selbstständigkeit zurückgeben.
"Wir ziehen jetzt erstmal die Elekrodenkappe auf Sebastians Kopf und müssen ausmessen, ob sie richtig sitzt."
"Dann lege ich vorne an."
In einem kleinen Raum der Technischen Universität Darmstadt schließen vier Studenten Sebastian Reul an einen Computer an.
"Das passt perfekt."
"Jetzt müssen wir alle 129 Elektroden einzeln gelen. Das verstärkt die Leitfähigkeit der Signale. Beim Gelen muss man darauf achten, dass wir auch ganz leicht die Kopfhaut aufkratzen."
Das machen die Studenten mit speziellen Nadeln.
"Die sind ja nicht spitz, zum Glück."
"Mit der Zeit bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie stark man da drücken kann."
Sebastian Reul sieht es gelassen.
"Wenn es zu heftig wird, sage ich was."

Training für den Cybathlon

Eine Stunde dauert die Prozedur. Sebastian Reul sitzt im Rollstuhl. Seit einem Autounfall als Beifahrer ist er vom Hals abwärts gelähmt, kann seine Arme nur ein wenig bewegen. Die Elektrodenkappe ist Teil einer sogenannten Gehirn-Computer-Schnittstelle. Alleine mit seinen Gedanken soll Sebastian Reul später eine Figur in einem Computerspiel steuern.
Das alles ist Teil des Trainings für den Cybathlon, einen Wettkampf, der zum Zeitpunkt dieser Übung 33 Tage entfernt ist. Beim Cybathlon treten die Teilnehmer mit modernsten Assistenzsystemen gegeneinander an. Menschen ohne Arme absolvieren Geschicklichkeitsparcours dank Prothesen, Querschnittsgelähmte marschieren in Exoskeletten über Hindernisparcours und andere, wie Sebastian Reul, steuern ein Computerspiel mit ihren Gedanken.
Für die einzelnen Kommandos, die Sebastian Reul für das Spiel braucht, muss er etwa an Körperteile denken.
"Angefangen bei den Füßen: Ich stelle mir vor, ich gehe auf's Gaspedal. Bei der rechten Hand denke ich an eine Gangschaltung, wo ich die Gänge durchschalte. Bei der linken Hand zerquetsche ich irgendwas oder tue irgendwas hochheben."
Diese Hirnaktivitäten werden von einem Computersystem verarbeitet, das die Informatik-Studentin Natalie Faber mit ihrem Cybathlon-Team entwickelt hat. Zunächst kommt das sogenannte Preprocessing.
"Preprocessing heißt, dass wir unsere Daten vom Rauschen befreien."
Dann die Artefaktreduktion. Jede Muskelbewegung stört die Signale.
"Zum einen dieses Blinzeln herausrechnen, zum anderen zum Beispiel Kaumuskulatur rausziehen."
Jetzt erst geht es daran, Muster in den Daten zu erkennen.
"Welche Elektroden werden immer wieder verwendet? In welchem Frequenzbereich sind diese Elektroden immer aktiv?"
Diese Muster sind der Schlüssel zur Gedankensteuerung. Ein spezieller Lernalgorithmus kann sie erkennen. So kann Sebastian Reul, wenn er an etwas Bestimmtes denkt, den Computer steuern. Welche Gedanken am besten funktionieren, das testen die Studenten gerade. Heute versuchen sie es mit Gedanken an Navigation.
"Wie genau stellst Du Dir das vor?"
"Ich schließe bei uns das Tor auf, laufe durch den Hof, durch die Haustür..."
"Aber stellst Du Dir Dich auch vor?"
"Ja, Ego-Perspektive, wie bei Counterstrike."
Während Sebastian Reul denkt, zeichnen die Studenten seine Hirnströme auf. Sie überprüfen, ob ihr System diesen Gedanken gut erkennen kann. Falls ja, könnte er zu einem der drei Kommandos für das Computerspiel beim Cybathlon werden.
"Nach dem Training kann man mich meistens in die Tonne treten, weil ich mental komplett am Ende bin. Dazu kommt, dass meine Muskeln, die Impulse, die ich versucht habe zu unterdrücken, sich entladen, was mit Schmerzen verbunden ist."

"Ich hasse es, auf Hilfe angewiesen zu sein."

Sebastian Reul müht sich nicht nur für den Cybathlon ab. Er will eine Technologie voranbringen, die ihm und vielen anderen Menschen irgendwann zu Gute kommen könnte.
"Ich hasse es, auf Hilfe angewiesen zu sein. Weil ich weiß, wie es früher war. Ich bin selbstständig erzogen, ich kann einen kompletten Haushalt schmeißen. Meine Eltern konnten früher in Urlaub fahren, weil ich mich um meine Oma gekümmert habe. Meine Oma war früher ein Pflegefall. Ich kann nähen, bügeln, stricken, häkeln, kochen, Waschmaschine betätigen. Das war eine der schwierigsten Sachen, was heute auch nicht immer so leicht ist: Auf Hilfe angewiesen sein. Und um Hilfe zu bitten. Das ist sehr schwer gewesen. Ist heute noch schwer, stellenweise."
Einen Teil der Selbstständigkeit könnte die Technologie Sebastian Reul und vielen anderen irgendwann zurückgeben. In den Hirn-Computer-Schnittstellen steckt ein riesiges Potenzial. Gelähmte könnten damit Computer oder moderne Häuser steuern und vielleicht sogar in einem Exoskelett gehen. In ersten Experimenten haben Menschen bereits mechanische Hände Kraft ihrer Gedanken bewegt.
Doch noch steckt die Technologie in der Entwicklung: Das Aufsetzen der Elektrodenkappen nimmt eine Stunde in Anspruch. Und auch die Verarbeitung der einzelnen Signale dauert einige Sekunden. Der Cybathlon soll auch diese Schwächen zeigen und Forscher motivieren, die Technik zu verbessern.
Der Wettkampf hat letzten Samstag stattgefunden. Gut 4500 Zuschauer verfolgten das virtuelle Rennen mit Gedankensteuerung, bei dem es für Sebastian Reul und das Team aus Darmstadt nicht fürs Finale gereicht hat. Ich habe kurz nach dem Wettbewerb mit Sebastian Reul gesprochen.
"Woran hat es gelegen? Für die vorderen Plätze hat es nicht gereicht."
"Das ist schwer zu sagen. Zum einen ist eine komplett andere Situation in so eine Arena zu kommen, die komplett ausverkauft ist, diese Riesencrowd zu haben, die einen anfeuert und Lautstärke und Kameras. Ich hab versucht, ruhig zu bleiben, aber mein Team hat gemeint, von den Signalen her, hat man schon gemerkt, dass das Unterbewusstsein arbeitet."
Emotionen können die Signale verfälschen. Das ist eine weitere Herausforderung, die diese Technik mit sich bringt. Beim Cybathlon mussten sich die Teilnehmer in Selbstbeherrschung üben, für die Zukunft wird man versuchen müssen, auch diese Störungen herauszurechnen.