Skandalträchtige britische Dame
Vor kurzem wurde sie in den britischen Adelsstand erhoben, doch die Schriftstellerin Hilary Mantel hat mit ihrem Werk auch schon für handfeste Skandale im Königreich gesorgt. Mit "Falken" hat sie nun ihre preisgekrönte Trilogie über die Tudor-Zeit vollendet - und erklärt, warum ihre eigene Zukunft weniger gespenstisch ist als früher.
Mantel: "In hellen klaren Nächten trete ich manchmal auf den Balkon hinaus."
In "Giving Up the Ghost", ihren 2003 erschienenen Memoiren, erzählt die englische Schriftstellerin Hilary Mantel von einer flüchtigen Begegnung mit dem Gespenst ihrer selbst.
"Es ist still hier oben. Ich wickele mich in eine Decke und lege meine Stirn auf das eiskalte Balkongeländer, und ich denke darüber nach, was ich verloren und was ich gewonnen habe."
In dem im Frühjahr auch in Deutschland erscheinenden Buch zeichnet sie das Selbstporträt der damals etwa 50-jährigen, eher weniger prominenten Schriftstellerin, die im Augenblick einer Lebenskrise den kommenden Ruhm allenfalls erahnte.
"Manchmal, im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, sehe ich im Dunkel, so glaube ich zumindest, eine gewisse Gestalt. Eine Gestalt, die in einen Mantel gehüllt ist und irgendwelche sperrigen Dinge trägt, die in ein Wachstuch gewickelt sind."
In der Londoner Literaturagentur A. M. Heath sitzt Hilary Mantel in einem engen Vor- oder Durchgangszimmer in einem Sessel. Ein Schreibtisch und ein Bücherregal, Türen in andere Räume. Vor Mantel ein kleiner Tisch: darauf ein Exemplar von "Die Ermordung Margaret Thatchers", ihres neuen Buchs, und ein Band ihrer Memoiren. Die englischen Originalausgaben der Romane "Wölfe" und "Falken", der monumentalen, 2009 und 2012 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten ersten Teile der Trilogie über Thomas Cromwell.
Cromwell war der geniale politische Kopf am Hofe König Heinrichs VIII. Im vom Glanz der eigenen Vergangenheit geblendeten England sind die Romane der Tudor-Trilogie ein kulturelles Phänomen, dessen einzigartiger Erfolg vor wenigen Monaten von Mantels Erhebung in den Adelsstand gekrönt wurde. Dame Hilary ist inzwischen 62 Jahre alt.
"Heute weiß ich, dass ich damals die Thomas-Cromwell-Bücher trug. Diese Bücher hatte ich schon viele Jahre im Kopf mit mir herumgetragen, aber als ich Anfang der 2000er-Jahre die Memoiren schrieb, hatte ich noch keine Ahnung, wie ich anfangen sollte oder ob ich jemals in der Lage sein würde, diese Romane zu schreiben. Was ich sah, war mir verborgen, aber es lastete definitiv schwer."
Schreiben gegen die Vorahnung von Schmerz und Verlust
Mantel trägt weite, wallende Kleidung, türkisfarbene Gummi-Clogs. Strandschuhe, Kinderschuhe, so sonderbar wie die bunte Kinderuhr an ihrem Handgelenk. Sie hat einen schweren, von Krankheit und Medikamenten aufgeschwemmten Körper, einen nachsichtigen Blick. In den Fingern ein Stift, mit dem sie beim Sprechen unablässig spielt, den kleinen Finger der linken Hand abgespreizt: eine preziöse Geste, die ebenso wenig im Einklang mit ihrer schwerfälligen Erscheinung zu sein scheint wie die zarte Stimme, mit der sie England immer wieder in Empörung versetzt.
In "Die Ermordung Margaret Thatchers", der Titelgeschichte ihres neuen Erzählungsbandes, imaginiert Mantel ein Attentat auf die frühere Premierministerin, die sie im August 1983 aus dem Fenster ihrer damaligen Wohnung in Windsor beim Verlassen eines Krankenhauses beobachtet hatte. Die Erzählung hat im konservativen Lager einen ähnlichen Skandal hervorgerufen wie Mantels Anfang 2013 gehaltener Vortrag über den weiblichen Körper der Royals, in dem sie nicht nur über die Tudor-Königinnen sprach, sondern auch über das Image Kate Middletons, der Mantel den künstlichen Charme einer Schaufensterpuppe attestierte.
"Die Monarchie ist ein Symbol – ein kraftvolles Symbol, aber eines, das zunehmend jeglichen Inhalts entbehrt. Die Royals sind längst nur noch Celebrities, wie man am Beispiel von Diana und Kate Middleton sehen kann."
Mantel rückt sich in dem Sessel zurecht, in dem sie ansonsten in beinahe regloser Pose thront. Sie erzählt von ihrer als Martyrium empfundenen Kindheit, dem Beginn ihrer Endometriose, der Vorahnung von Schmerz und Verlust, der sie Mitte der siebziger Jahre die Arbeit an ihrem ersten Roman entgegensetzte. Sie erzählt von der Operation, nach der sie wusste, dass sie niemals Kinder haben würde.
Der Gedanke, dass ein anderes Leben möglich sein könnte, die Idee eines alternativen Verlaufs der Geschichte hat sie immer schon fasziniert. Davon handelt schließlich auch ihre Story "Die Ermordung Margaret Thatchers", in der die Ich-Erzählerin mit dem Attentäter kollaboriert, indem sie ihm eine verborgene Tür in der Wand zeigt, durch die der Fremde nach dem Schuss auf die Eiserne Lady entkommen kann. "Die Geschichte", so Mantel in ihrer Story, "hätte immer auch anders sein können."
"Wenn man über historische Figuren schreibt – egal, ob es sich um Thomas Cromwell zur Zeit Heinrichs VIII. handelt oder um Margaret Thatcher in dieser Story – weiß jeder Leser von vornherein, was ihnen widerfahren wird. Aber die Figuren selbst wissen es nicht, sie haben von ihrem Schicksal keinen Schimmer. Anders als wir können sie von ihrer eigenen Geschichte nichts lernen, und wir sollten daher von der hohen Warte unserer zeitlichen Distanz keine voreiligen Urteile über sie fällen."
Erinnerung an zentralen historischen Moment der strauchelnden Nation
Es ist nicht zuletzt Mantels ganz im historischen Augenblick verankerte Sicht auf die Geschichte und ihre Figuren, die die Romane der Tudor-Trilogie so herausragend macht. In der mitunter geradezu haptisch anmutenden Vergegenwärtigung der Vergangenheit verleiht Mantel der englischen Monarchie abermals das Gewicht einer ehrfurchtgebietenden Autorität. Sie erinnert die strauchelnde, in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts am Rande Europas stehende Nation an einen zentralen Moment in ihrer politischen Geschichte, in der die Weichen in eine Zukunft gestellt wurden, die nicht zwingend die jetzige hätte sein müssen.
"Der Thomas Cromwell meines Romans spricht über das Potential eines zukünftigen Englands, und mein Wunsch heute wäre, dass die Nation endlich aufwachen würde und zu denken beginnt. In vielerlei Hinsicht ernten wir heute das, was Mrs Thatcher in ihrer Amtszeit ausgesät hat, und man wünscht sich natürlich, dass die eigenen Landsleute "Stopp" sagen und die Zerstörung ein Ende nimmt."
Hilary Mantel lässt ihren Blick schweifen. Der Stift in ihren Händen ein magisches Spielzeug, von dem sie nicht ablassen kann. Derzeit schreibt sie an "The Mirror and the Light", dem abschießenden Band ihrer Tudor-Trilogie, in dem es um Cromwells unaufhaltsamen Aufstieg zur politischen Macht am Hofe Heinrichs VIII. geht. Mantel greift nach dem Glas Wasser, das eine Angestellte der Literaturagentur vor ihr auf den Tisch gestellt hat. Sie blickt voller Zuversicht in die Zukunft und erzählt von der in ihren Memoiren beschriebenen gespenstischen Gestalt, die ihr auch heute hin und wieder erscheint.
"Sie ist heute sehr viel deutlicher zu erkennen als damals, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass es mir gesundheitlich besser geht. Sie ist weniger gespenstisch, und während sie früher mit den ungeschriebenen Büchern an meinem Balkon vorbeischlich, hämmert sie jetzt gegen meine Tür und sagt: 'Hier ist dein Plan für die nächsten zehn Jahre.'"