Hildegard E. Keller: "Was wir scheinen"
Eichborn Verlag, Köln 2021
544 Seiten, 24 Euro
Denken tut weh
06:20 Minuten
Hannah Arendt ist als Denkerin des 20. Jahrhunderts vielfach gewürdigt worden. Kann ein literarisches Porträt der Philosophin dem noch etwas hinzufügen? Hildegard E. Keller gelingt es mit ihrem Romandebüt "Was wir scheinen" allenfalls sporadisch.
"Denken tut weh", soll Albert Einstein einmal zu der streitbaren Philosophin Hannah Arendt gesagt haben, "und mit nichts machen Sie sich unbeliebter, als wenn Sie Leute zum Denken bringen wollen." Einsteins Prognose sollte sich bewahrheiten. Denn mit ihrem berühmten "Bericht von der Banalität des Bösen", der höchst eigensinnigen Reportage über den Auftritt des NS-Kriegsverbrechers Adolf Eichmann vor einem Bezirksgericht in Jerusalem, löste Hannah Arendt 1963 den ersten fulminanten Shitstorm der modernen Geistesgeschichte aus.
In dem zuerst als Artikelserie im Magazin New Yorker erschienenen Bericht hatte es die Denkerin gewagt, den Logistiker des Massenmords an den europäischen Juden als unauffälligen Befehlsempfänger und Inkarnation des Kadavergehorsams zu beschreiben, als "Hanswurst" ohne Gewissen. Langjährige Freunde wie der Religionsphilosoph Gershom Scholem wandten sich daraufhin von ihr ab, der Historiker Golo Mann attestierte ihr in einer scharfen und auch verletzenden Kritik "Originalitätssucht" und "Arroganz".
Reale und fiktive Begegnungen
Nun hat die Schweizer Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Hildegard E. Keller diesen bis heute anhaltenden Streit um Hannah Arendts Blick in den Abgrund des 20. Jahrhunderts ins Zentrum ihres Romandebüts "Was wir scheinen" gerückt. Auf 540 Seiten entwirft Keller in zwei Handlungslinien aufschlussreiche Schlüsselszenen aus dem Leben der ungebärdigen Denkerin.
Am Ausgangspunkt des Romans bricht Hannah Arendt auf zu ihrer letzten Sommerreise ins Tessin im Juli 1975. Auf dieser Erzählebene folgt Keller den Spuren der Sehnsuchtsreisenden Arendt, die in Tegna bei Locarno seit 1969 ihr Refugium gefunden hatte. In einem zweiten Handlungsstrang umkreist sie die Vorgeschichte der erregten Debatte um das Eichmann-Buch und lässt in erfundenen Dialogen Freunde und Weggefährten der Heldin auftreten. So wird geschildert, wie Arendt letzte Aufzeichnungen von dem Philosophen Walter Benjamin erhält, bevor dieser auf der Flucht vor den Nazis im Mai 1940 in den Freitod geht.
In ihrem knappen Nachwort betont Keller, dass sie keinen biografischen Roman schreiben, sondern eher imaginativ das Charakterbild einer Persönlichkeit entwickeln wollte, der die Freiheit des Denkens über alles ging. Hier gibt es zahlreiche fesselnde Passagen, wenn Keller die teils realen und teils fiktiven Begegnungen zwischen Arendt und Ingeborg Bachmann oder mit dem Philosophen Günther Anders imaginiert.
Weichgezeichnete Tessin-Passagen
Aber was kann ein Hannah Arendt-Roman den zahlreichen kritischen Würdigungen und Hagiographien zur am meisten bewunderten Denkerin des 20. Jahrhunderts noch hinzufügen? Keller entscheidet sich dafür, die Schweiz als einen bislang kaum beachteten Denk-Ort in Arendts Biografie zu markieren. Die Schönheit der Tessiner Landschaft hoch über dem Lago Maggiore wird hier ebenso in den Blick gerückt wie die Verbundenheit Arendts mit Basel, wo ihr innig verehrter Lehrer Karl Jaspers lebte. Ungewöhnlich ist auch, wie stark der Roman die Denkerin Arendt als Lyrikerin profiliert - so ist etwa der Titel des Romans einer Gedichtzeile Arendts entlehnt.
Mitreißend ist der Roman aber nur dann, wenn er in sehr intensiv komponierten Erzählpartien die intellektuellen Zerreißproben im Gefolge der Debatte um das Eichmann-Buch nachzeichnet. Etwas weichzeichnerisch sind dagegen die Tessin-Passagen geraten, in denen die Erzählerin über etliche Seiten hinweg kulinarische Erfahrungen in Lokalen und Hotels thematisiert. Hildegard Keller riskiert in "Was wir scheinen" ziemlich viel Einfühlung. Das wirklich überzeugende "Buch Hannah", das Karl Jaspers bereits in den 1960er-Jahren schreiben wollte aber nie vollenden konnte, steht immer noch aus.