Ordnung für Raum und Seele
Messies leben im Chaos: Sie öffnen ihre Post nicht mehr, können nichts wegwerfen, leben in Wohnungen, die bis zur Decke vollgestopft sind. Im schlimmsten Fall trennen sie sich nicht einmal mehr von ihrem Müll. Doch es gibt Hilfe.
Hüttinger: "Herr Bernsen kam gerade rein und ich habe ihn gleich beauftragt, den versprochenen Kaffee zu kochen."
Der Kuchen steht schon auf dem Tisch an jenem Mittwochnachmittag im Winter vergangenen Jahres. Gut 20 Frauen und Männer drängen sich in einem engen Raum in Berlin-Weißensee um die wenigen kleinen Tische. Es ist heiß und stickig.
Gast: "Vielleicht können wir vorher lüften?"
Hüttinger: "Ja, Luft, frische Luft rein."
Gast: "Sonst ersticken wir alle hier."
Die meisten hier sind im mittleren Alter – manche eher elegant, andere nachlässig gekleidet. Unauffällig. Dabei regiert bei allen Anwesenden zuhause, in ihren Wohnungen, das Chaos. Messie-Syndrom, wie es landläufig heißt. Abgeleitet vom englischen "mess" für Unordnung.
"Ich mag das Wort nicht. Es klingt irgendwie wie ein Knuddeltier, so ein Messie. … Wir sprechen am liebsten irgendwie von Betroffenen. Wir sprechen von Menschen mit einem Ordnungsdefizit."
Andrea Hüttinger sitzt am größten Tisch im Raum, vor sich eine Tasse Kaffee. Die 42-Jährige mit halblangen, leicht zerzausten Haaren und etwas nervösem Blick hat den Verein "Freiraum Berlin-Brandenburg" gegründet. Nachhaltige Hilfe für Messies ist das Ziel, deren Zahl in Deutschland auf 1,8 Millionen geschätzt wird. Die gemeinsame Kaffeerunde jeden Mittwoch soll ein Anfang sein.
"In Abgrenzung zu einer Selbsthilfegruppe"
Hüttinger: "Es ist von Betroffenen stark getragen dieser Kaffeeklatsch. Wo sie sich alle zwei Wochen ohne Druck treffen. Ganz bewusst in Abgrenzung zu einer Selbsthilfegruppe. Wo es einfach um einen Austausch geht, um eine Gemütlichkeit, um das schöne Leben, sag ich jetzt mal."
Das klingt zunächst banal. Aber viele der Betroffenen leben isoliert. Oft sind ihre Wohnungen bis auf schmale Gänge vollgestopft mit alten Dingen und Müll. Sie schämen sich wegen des Chaos' und des Drecks, empfangen deshalb teils seit Jahren schon keine Gäste mehr. Vereinsamung ist die Folge. Und mit der Zeit geht auch die Struktur des Alltags verloren.
"Wir haben mehrere Leute, wo tatsächlich schon eine Odyssee von mehr als zehn Jahren dahinter steckt. … Wir sind oft die ersten Menschen, die sozusagen wieder den Kontakt zur Außenwelt. Also eine beständige Beziehung, ein beständiges Wiederkommen."
Für mich fühlt sich die Atmosphäre des Kaffeeklatsches bedrückend an. Oft stocken die Gespräche, dann hängt eine bleischwere Stille im Raum. Die Betroffenen scheint das nicht zu stören. Viele wirken zwar verschlossen, aber trotzdem froh, hier Menschen mit ähnlichen Problemen zu treffen. Oder Menschen, die Hilfe anbieten. Heute zum Beispiel Rechtsanwalt Stefan Senkel, der juristische Ratschläge gibt:
"Die Probleme sind zum großen Teil mietrechtliche Probleme. … Also es kommt aufgrund des Messiesyndroms zu Störungen des Mietrechtsverhältnisses. Und drumherum auch sehr viele Probleme, die mit dem Einhalten von Terminen und Fristen zu tun haben. Also pünktliche Mietzahlung. Oder auch der Gang zum Amt, zur Behörde, zum Jobcenter verursacht Probleme."
Niemand zu erreichen, der Anrufbeantworter voll
Diese Erfahrung mache auch ich während der Recherche. Es dauert zuweilen Wochen, bis Treffen zustande kommen. Am vereinbarten Termin ist niemand zu erreichen, der Anrufbeantworter voll. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, mit Messies in ein längeres Gespräch zu kommen, treffe ich auf Thekla Werner. Unter der Bedingung, dass ihr richtiger Name nicht im Radio genannt wird, ist sie bereit, von ihrem "Ordnungsdefizit" zu berichten.
Frühling 2013, ein sonniger Vormittag. Wir treffen uns in einem Café neben einer lauten Kreuzung im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Große Statur, langer Mantel und kräftige rot-braune Haare – so sitzt mir die Frührentnerin auf der Terrasse gegenüber.
Alle paar Minuten donnert eine Maschine im Landeanflug auf den nahen Flughafen Berlin-Tegel über uns hinweg. Thekla Werner kann nur am Stock laufen, aber sie wollte hier mit mir reden. Ihre Wohnung ist nicht weit entfernt – aber für alle Gäste und damit auch für mich tabu.
"Natürlich habe ich früher Besuch gehabt. Das schmälerte sich dann so um 2004/2005 rum. Als auch, na, die Berge zwar noch niedrig waren. Aber es zu viel Aufwand war, aufzuräumen, um Freunde zu empfangen. Also das hätte dann zwei Tage Vorbereitung gebraucht oder so. Und dann habe ich das irgendwann gänzlich abgebrochen."
Thekla Werners Beschreibung ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung löst bei mir Beklemmung aus. Überall auf den 60 Quadratmetern stapeln sich Zeitungen, Zeitschriften, Kartons. Flaschen haben sich ebenso angesammelt wie kiloweise Kleidungsstücke und 1.200 Rollen Stoff für ein ausuferndes Hobby: Patchwork.
Das Sofa im Wohnzimmer ist unerreichbar, ein Drehstuhl dort die einzige Sitzgelegenheit. Thekla Werner besitzt tausende Bücher – ein Teil davon ist rund um das Bett aufgeschichtet wie eine Festungsmauer. In der Küche steht auf Tisch und Ablagen Geschirr, das nicht mehr in die übervollen Schränke passt.
"Ich weiß, dass ich ein Messie bin"
Immer wieder zieht Thekla Werner an ihrer Zigarette, während sie ihre Lage beschreibt:
"Ich weiß, dass ich ein Messie bin. Und ich weiß, dass ich viel zu viele Sachen rumliegen habe, die nicht geordnet sind. Und es befindet sich auch jede Menge Müll darunter. Es sind nicht nur die Bücher, die rumliegen, die Stoffe, die ich für mein Hobby brauche. Sondern es liegen auch ganz viele unnütze Sachen, die man normalerweise in Schränken verstecken kann, liegen rum. Und ich bringe es nicht fertig, die weg zu räumen. Ich kann da drüber stolpern, ich kann da drüber steigen, statt sie in die Hand zu nehmen und weg zu tun."
Wie die meisten Messies lebt auch Thekla Werner allein, ihr ganzes Leben schon. Eigene Kinder hat sie nicht, war aber als Erzieherin jahrzehntelang mit dem Nachwuchs anderer beschäftigt.
Werner: "Ich möchte bitte eine große Cola."
Sie bestellt noch ein Getränk - dann fällt die Erinnerung leichter:
"2006 begann bei mir eine Depression. Und, ja, das führte halt dazu, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte oder wollte. Und den ganzen Tag eigentlich im Sessel saß und Löcher in die Luft starrte. Und im Haushalt so gut wie nichts mehr gemacht habe."
Der Tod der Mutter war bei Thekla Werner Auslöser für die Depression, bei anderen ist es die Trennung vom Partner oder andere einschneidende Erlebnisse. Messies ketten ihre Erinnerungen an die alten Dinge und können sie deshalb nicht loslassen, so die vereinfachte psychologische Erklärung. Es gibt aber auch Zwangserkrankungen oder überhöhte Verlustängste, deren Ursachen in der frühen Kindheit liegen. Manche Psychotherapeuten sind auf Messies spezialisiert, auch Thekla Werner war in Behandlung. Doch in der Zwischenzeit wuchs ihr die Wand aus Unrat über den Kopf.
"Wohin damit? Die Schränke sind ja voll"
"Ich stehe davor. Ich weiß auch nicht, wo ich anfangen soll. Das ist das Problem. … Man soll sich einen Platz schaffen, der ganz, ganz ordentlich ist. … Im Kleinen anfangen, Briefmarkengröße. Das habe ich jetzt geschafft. Das ist im Badezimmer meine Ablage. … Da steht meine Zahnbürste, da steht meine Zahnpasta, mein Shampoo, mein Deo. … Also diese kleine Fläche, die ist wirklich so in Ordnung. Und dann denke ich immer: Von da kannst Du ja weiter machen. … Und dann komme ich in die Küche und dann denke ich: Du liebes Lottchen. Die Ablage müsstest Du machen. Ja, aber wohin damit? Die Schränke sind ja voll."
Nervös spielt Thekla Werner mit der Zigarettenschachtel auf dem Tisch. Schon kleine Zwischenfälle können Panik auslösen. Zum Beispiel, wenn die Wasserleitung kaputt geht. Manche Messies stellen lieber monatelang das Wasser ab, statt einen Klempner zu alarmieren. Auch Thekla Werner kostet es nach einer solchen Havarie viel Überwindung, den Handwerker in ihre Wohnung zu rufen:
"Man weiß, man kann innerhalb von zwei Tagen zwar Gänge schaffen, damit die da durchkommen. Das Badezimmer auch so weit frei räumen, dass sie an die Wanne und in die Wanne und wie auch immer. Aber es ist natürlich eine äußerst peinliche Angelegenheit. Ja, es ist so. Das ist ganz grauenvoll. Solche Katastrophen möchte man nicht erleben."
Es gibt nur einen anderen Menschen, den sie regelmäßig in ihre Wohnung lässt: den Aufräumspezialisten vom Hilfsverein "Freiraum". Ich verabrede mit Thekla Werner, dass ich den Mann in einigen Monaten bei einem Besuch begleiten darf. Bis dahin – so hoffen wir beide – hat sie einige Fortschritte beim Ordnen ihrer Wohnung gemacht.
Ein halbes Jahr später. Ich sitze mit Jürgen Bernsen, dem Aufräumhelfer, Mitte 50, in einem Kleinwagen. Hinten am Auto klappert ein alter Anhänger. Wir sind auf dem Weg zu Thekla Werner.
"Sie steht zurzeit gerade im Dunkeln"
"So viel ich weiß, steht sie zurzeit gerade im Dunkeln. Die Lichter sind kaputt. Da es ein schlechtes Beikommen ist, … machen wir erst Mal Platz, damit wir an eine Lampe ran kommen. Und schrauben ihr dann neue Birnen ein."
Bernsen hat schon als Reinigungsunternehmer und in der Pflege gearbeitet. Jetzt kommt beides zusammen. Er ist ein vorsichtiger Mensch mit sanfter Stimme und kräftigen, zupackenden Händen.
Bernsen: "Das nervt am meisten. Die Baustellen."
Bernsen tritt auf die Bremse – ein Bagger versperrt die Straße. Es wird knapp bis zum vereinbarten Termin – dabei soll sein zuverlässiges Erscheinen ein Stück Struktur in das Leben der Betroffenen zurück bringen.
"Man möchte auch pünktlich sein. Weil das gehört ja auch einfach zur Hilfe mit dazu. Dass man selbst auch ein Vorbild ist."
Trotz Baustelle auf dem Weg – Bernsens Verspätung bleibt im Rahmen. Nur wenige Minuten nach der vereinbarten Zeit rangiert er seinen Kleinwagen samt Anhänger in eine Parklücke vor dem Haus von Thekla Werner.
Bernsen: "Ach, so lange habe ich den Hänger noch gar nicht. Also jetzt nicht wundern, wenn ich hier so rum eiere." Abschalten des Motors, Tür wird geöffnet
Kaum Fortschritte beim Aufräumen
Jürgen Bernsen verschwindet in dem grauen Sechsgeschosser mitten in der Einflugschneise des Flughafens Berlin-Tegel. Ich darf nicht mit hinein, denn Thekla Werner hat seit unserem letzten Treffen vor sechs Monaten kaum Fortschritte beim Aufräumen gemacht. Sie will nicht, dass ich die Wohnung sehe. Nach knapp zwei Stunden erscheinen Helfer und Klientin gemeinsam im Hausflur.
Bernsen: "Wir haben einige Sachen sortieren können, Anziehsachen. Nebenbei ein bisschen Licht geschaffen."
Werner: "Und da haben wir dann auch noch ein paar Pfandflaschen gefunden. Die haben wir dann auch sortiert. Und, ja, eine große Mülltüte ist zusammen gekommen. Und die ist auch wegbring-bereit."
Jürgen Bernsen müsste eigentlich jede Woche kommen, aber das wäre zu teuer. Thekla Werner muss die Hilfe von "Freiraum" selbst bezahlen. Nur bei sehr niedrigem Einkommen springen die Behörden ein, ihre Rente aber liegt knapp über diesem Satz. Auch die Krankenkassen helfen nicht. Das Messie-Syndrom ist hierzulande nicht als Krankheit anerkannt.
"Ja, es geht halt alles nur ganz langsam. Und ich muss auch wirklich jedes Teil anfassen, was ich wegschmeiße. … Ich möchte es nicht haben, dass jemand was wegschmeißt, von dem ich nicht weiß, was es war. Das will ich nicht. … Ich würde nie meine Stoffe oder Bücher entsorgen lassen von anderen."
Thekla Werner möchte so gerne aufräumen, aber es geht nicht voran. Deshalb suche ich nach einem Messie, der tatsächlich Fortschritte macht. Es dauert noch einmal drei Monate, bis ich jemanden finde.
Zwei Wochen Bedenkzeit für Einladung
Winter 2014. Ich fahre an den südlichen Berliner Stadtrand. Halte vor einem dreistöckigen Häuserblock aus den 60er-Jahren, eingefasst von einem niedrigen Metallzaun. Graubraune Schindeln an der Fassade, die Wege sind gefegt, die Randstreifen geharkt. Kaum vorstellbar, dass sich hier eine Messiewohnung befinden soll.
In der dritten Etage lebt Renate Lehmann. Nach zwei Wochen Bedenkzeit hat mir die 61-Jährige erlaubt, sie zu Hause zu besuchen. Mittlerweile kann ich ermessen, wie schwer diese Entscheidung für sie gewesen sein muss. In ihrer Anderthalb-Zimmer-Wohnung wuchs das Chaos mehrere Jahre. Doch seit vier Monaten kommt Marie Kaiser zwei Mal pro Woche für zwei Stunden zum gemeinsamen Aufräumen. Und es geht voran:
Kaiser: "Wollen Sie denn das heute noch machen?"
Lehmann: "Nein, da ist zu viel drin. Das schaffen wir heute nicht. Das können wir ja dann beim nächsten Mal machen."
Am langen Esstisch im Wohnzimmer besprechen die beiden Frauen, was heute angepackt werden soll. Allein dass sie überhaupt an diesem Tisch sitzen können, ist ein Erfolg. Als das große Aufräumen begann, war daran nicht zu denken, berichtet Renate Lehmann.
Lehmann:"Angefangen hat das, dass der Tisch hier von vorne bis hinten ganz voll war. Und wir dann angefangen haben, diesen Tisch abzuräumen. Und alles, was da drauf war. Es ist ganz viel Papier, Bastelmaterial und solche Sachen, haben wir in Kisten verpackt, die da stehen."
"Es wurde immer flacher, immer flacher"
Kaiser: "Also man darf sich nicht vorstellen, dass der Tisch innerhalb einer Woche dann leer ist. Sondern das war eine Sache, die sich über einige Termine hinzog. Und es wurde immer flacher, immer flacher. Und irgendwann stießen wir dann tatsächlich auch auf Tisch."
Trotz ihrer zierlichen Gestalt ist Marie Kaiser eine tatkräftige Messie-Helferin. Die 31-jährige Psychologin weiß aus Erfahrung, dass die Beseitigung des Chaos Monate dauern kann:
"Das Aufräumen ist bei jedem Klienten ein bisschen unterschiedlich. Das kommt darauf an, welche Grundproblematik dahinter steht. Bei jemandem mit einer Zwangserkrankung zum Beispiel müssen akribisch alle Sachen angeschaut und hin und her gewendet werden, ob es denn wirklich entsorgt werden kann. Bei jemandem mit einer Depression ist es schwieriger, die Konzentration beispielsweise zu halten."
Ich kann kaum glauben, dass in Renate Lehmanns Wohnzimmer seit vier Monaten intensiv aufgeräumt wird. Sofa, Sessel und Couchtisch sind unter einem großen Haufen Gerümpel nur zu erahnen. Hüfthoch liegen große Mengen an Papier, Kartons, Pappe und Kleidungsstücken herum. Der Teil des Zimmers um den Tisch herum aber ist mittlerweile frei.
"Ganz viele Kisten, wo Material drin war, die haben wir aufgelöst. Und haben die dann da ins Regal gebracht. … Mein Wäscheständer stand hier quer, da lag auch ein Haufen Kram drauf. Den haben wir weg gebracht. … Also die Geh-Fläche war halb so groß wie jetzt."
Sonderbarer Kontrast zum Chaos
Mit ihrem gepflegten Äußeren bildet Renate Lehmann einen sonderbaren Kontrast zu dem Chaos um sie herum. Grau-blonde Kurzhaarfrisur, eine randlose Brille mit rot eingefärbten Gläsern und Ton in Ton ein roter Pullover. Nichts deutet daraufhin, dass sie im Inneren mit einer großen Unordnung kämpft.
Renate Lehmann ist schon seit einigen Jahren arbeitslos. In der freien Zeit widmet sie sich ausgiebig ihrem Hobby. Sie bastelt exzessiv, und dafür braucht sie viel Material.
"Ich habe immer was Neues raus gekramt, weil ich ja durchweg gebastelt habe. Und man räumt das dann nicht wieder weg, weil man braucht das ja. Und ich habe immer nur oben rauf gelegt."
Was für mich unvorstellbar bleibt: Dass man sich mit dem eingeschränkten Leben in vollgestopften Zimmern arrangieren kann. Renate Lehmann aber waren die Berge auf ihrem Tisch wichtig, obwohl sie ihr die Sicht nahmen:
"Ich fühlte mich hier hinter irgendwie geschützt. Das war so mein Wall, mein Schutzwall, ja."
Mittlerweile sind Renate Lehmann und Marie Kaiser in die Küche gewechselt. Auch hier ist schon einiges geschafft, obwohl noch Geschirr, Töpfe, Pfannen und leere Verpackungen herum liegen. Ein hoher Einbauschrank gleich neben der Küchentür soll heute aufgeräumt werden.
In wenigen Tagen leeren
Kaiser: "Wissen sie schon, was sie rein räumen wollen?"
Lehmann: "Ja. Da hinten ist noch so ein Schrank, da ist so ganz viel Plastikzeug drin. … Da wird was davon hier rein kommen."
Kaiser: "Weil der Schrank da hinten jetzt zu voll ist, oder?"
Lehmann: "Ja. Aber davon kann auch was raus. Also davon will ich was aussortieren."
Jede Entrümpelungsfirma könnte eine Messie-Wohnung auch in wenigen Tagen leeren. Das bieten Angehörige Betroffenen zuweilen als gut gemeinte Hilfe an. Doch schon beim Gedanken daran steht Renate Lehmann das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
"Das wäre ja fatal, das wäre ganz schlimm. Da würde man sich ja total bevormundet vorkommen. Und ich glaube, das hilft auch erst dann, wenn man das auch selber macht. Es würde mir nicht helfen, wenn ich zugucke, wie jemand anders was aufräumt oder was wegwirft. … Dann hätte das nichts gebracht."
Fachleute warnen sogar davor, dass schnelles Entrümpeln zu neuen Depressionen bei Messies führen kann - und sogar manchmal Selbstmordgedanken auslöst. Auch die Psychologin Marie Kaiser plädiert für viel Geduld - und gemeinsames Aufräumen mit den Betroffenen.
„Wenn eine fremde Person die Wohnung aufräumt und entrümpelt, ändert die leere Wohnung noch nichts an der dahinter stehenden Problematik. Es werden keine Verlustängste aufgearbeitet. Die werden eher noch vergrößert, weil die Sachen auf einmal weg sind. Es wird keine Kondition zum Aufräumen geschaffen, weil die Person nicht selber aufräumt. … Kondition heißt einfach: körperlich so einen Termin durchzustehen. Trotz Rückenschmerzen zum Beispiel, trotz Atemproblemen. … Die Ängste auszuhalten, die dabei aufkommen, wenn zum Beispiel schwierige Amtsschreiben sortiert werden müssen. Oder Sachen von zum Beispiel verstorbenen Personen sortiert werden. … Das kann man nur erlernen und wieder erlernen, die Sachen zu sortieren, wenn man es selber macht."
Platz für ein Stück normalen Alltag
Es bleibt noch viel zu tun in Renate Lehmanns kleiner Wohnung. Nicht nur weiteres Aufräumen, auch gründliches Putzen ist nötig. Aber das halbe Wohnzimmer und die Küche sind schon wieder begehbar, die ersten Schränke aufgeräumt. Und der Esstisch bietet Platz für ein Stück normalen Alltag. Fortschritte, die sich auf das Lebensgefühl auswirken.
"Freier. … Anders kann ich es nicht sagen. Ja, freier. Ich habe jetzt wieder mehr Raum. … Nachdem die Küche jetzt auch wieder benutzbar ist, kann ich auch schon wieder kochen. Vorher stand alles voll, da war gar kein Platz dafür. Das haben wir jetzt auch schon geschafft."
In einigen Monaten, das hat sich Renate Lehmann vorgenommen, will sie ihre beste Freundin zum Essen einladen. Es wäre der erste Besuch in ihrer Wohnung seit Jahren.
Thekla Werner hat unterdessen nicht weiter aufräumen können, obwohl sie sich das so dringend wünscht. Noch einmal treffe ich mich mit ihr, aber nicht in ihrer Wohnung, sondern auf dem Weg zur Therapie. Genauer: Zur Kunsttherapie. Eine Wiener Künstlerin bietet speziell für Messies Collagen-Kurse an und Thekla Werner ergreift den Strohhalm, der ihr vielleicht Hilfe bringt.
Fiona Rukschcio: "Da hab ich so große Papiere. Möchtest Du denn groß arbeiten? Ah, da ist mein Kamm, super."
Thekla Werner: "Ja, meine Wohnung ist auch eine Wundertüte. An jeder Ecke lauert eine Überraschung. Und man ist immer ganz erstaunt, was man alles wieder findet."
Ganz eigener Blick auf Messies
Fiona Rukschcio hat ihr Atelier in einem hellen Raum mit breiter Fensterfront in Berlin-Hohenschönhausen. Die 41-Jährige hat einen ganz eigenen Blick auf Messies:
"Also ich mag gerne auch Unordnung und ich finde das faszinierend, wenn etwas so blüht und gedeiht. … Andy Warhol hat ja auch gesammelt. Der hat ja lauter so Kartons gesammelt, wo er ganz viele Sachen, auch Flyer, ganz viele Sachen des Alltags gesammelt hat. Und die werden immer noch systematisiert und geöffnet im Andy-Warhol-Museum in Pittsburgh. Und das finde ich spannend, auch inhaltlich. Dieses Festhalten von Alltag, von Alltagsgeschichte."
Thekla Werner hat einen Stoffbeutel voller alter Zeitschriften aus ihrer Wohnung mitgebracht – der Rohstoff für die Collagen. Auch ein Thema ist schnell gefunden.
Werner: "Ich fahre am Freitag für drei Wochen in die Heide zu meiner Tante. Das wäre schon ein Thema."
Rukschcio: "Na gut. Dann könntest Du da, was auf Dich zukommt, was Du vor hast. Was Du gerne hättest. Auch was vielleicht unrealistisch ist, ja. Also nicht zensieren. Alles raus lassen."
Die beiden Frauen sitzen an einem langen Tisch mitten im Raum. Während Thekla Werner sich sofort an die Arbeit macht, beobachtet Fiona Rukschcio, wie sich das leere, weiße A-3-Blatt füllt:
"Also dieses von der Fülle in die Konzentration zu gehen, dabei das Unwichtige dann auch weglassen zu können und dann das Konzentrat zu haben, das ist auch toll. Das ist auch befriedigend. Und da sehe ich auch einen Ansatzpunkt zu Messies. Oder zu Leuten, die Probleme haben, Sachen weg zu werfen. … Ich glaube, das Problem haben wir ja alle auch. Und manche Leute haben das eben mehr, und manche weniger. Und manche erkennen das, stehen dazu und können darüber reden. Das ist toll, weil die können daran arbeiten."
Rukschcio: "Und was ist jetzt? Bist Du schon fertig?"
Werner: "Ja."
Rukschcio: "Willst Du noch herumzeichnen oder rein arbeiten oder?"
Werner: "Nein, mache ich nicht so gerne. Ich kann es euch auch erklären."
Ein malerisches Naturbild in die Mitte geklebt
Nach etwa einer Stunde ist Thekla Werners Collage fertig. Ein malerisches Naturbild hat sie in die Mitte geklebt, darüber das Wort "Flucht". Bilder von einem Lesesessel und einem Braten. Vorfreude auf den Besuch bei ihrer Tante auf dem Land – wo die Tage Struktur haben und die Gedanken nicht vom Chaos in der Wohnung bestimmt werden. Ganz unten rechts aber hat sie noch zwei Worte aufgeklebt: "Schwerer Rückfall":
"Wenn Du dann nach Hause kommst – Du machst die Tür auf. Du kommst aus einem geordneten, sauberen, durchorganisierten Leben. Und machst Deine Tür auf – und alles bricht zusammen. Du suchst den Weg zu Deinem Lieblingsstuhl. Damit Du Dich hinsetzen kannst. Und dann denkst Du: Oh – und los geht es wieder."
Thekla Werner hat jetzt schon Angst vor dem Moment des Zurückkommens. Weil sie schon so lange erfolglos versucht, ihr Chaos zu ordnen, geht sie mittlerweile auch mit gemischten Gefühlen zum Kaffeklatsch mit anderen Betroffenen:
"Ich denke: Mein Gott, wenn die anderen das schaffen, warum schaffst Du das nicht? … Und ich lasse mich so gerne ablenken. Ich weiß das. Ich kenne alle, also vermutlich kenne ich alle Tricks. Ich kann sie bloß bei mir selber nicht anwenden."
Immerhin – ein paar alte Zeitschriften ist sie jetzt los. Alle Illustrierten, die sie zum Collagen-Kurs mitgebracht hat, kommen direkt in den Müll. Ein Gefühl, das sie aushält. Eine Winzigkeit, in dem großen Chaos, das sie beherrscht. Ein gutes Zeichen? Vielleicht.
Sven Kästner: "Während meiner Recherche über Messies hab ich eine Nachricht so oft wie nie zuvor gehört: 'Diese Mailbox kann zurzeit keine weiteren Nachrichten annehmen.' Selbst von Nachrichten auf dem Anrufbeantworter können sich die Betroffenen oft nicht trennen. Ich wollte wissen warum - und wie man helfen kann."