Hilfe gegen Tinnitus

Eine App umschmeichelt den Pfeifton

Eine Frau hält sich eine Hand ans Ohr.
Eine Frau hält sich eine Hand ans Ohr. © picture alliance / Romain Fellens
Von Marko Pauli |
Für Tinnitus-Betroffene klingt es nach Erlösung: Musik hören, die man selber mag und das andauernde Pfeifen im Ohr wird endlich etwas leiser. Mithilfe einer neuen Smartphone-App soll genau das möglich sein.
Popmusik in ihrem gesamten Frequenzspektrum. Mit der Tinnitracks-App wird der Bereich der Musik mit einem Filter bearbeitet, in dem sich die Tinnitusfrequenz des Patienten befindet.
Liegt der Tinnitus-Pfeifton zum Beispiel bei 1000 Hertz, wird dieser Bereich aus der Musik herausgefiltert, es entsteht eine Kerbe.
Die Musik schmiegt sich nun mit der Lücke bei 1000 Hertz um das Pfeifen herum. Es werden jetzt nur noch die Nervenzellen stimuliert, die außerhalb der Tinnitus-Frequenz liegen. Durch das tägliche, jeweils mindestens neunzigminütige Hören derart gefilterter Musik kann der überempfindliche und hyperaktive Tinnitusbereich beruhigt und die Intensität des Geräuschs gemildert werden – wie zumindest nicht repräsentative Studien gezeigt haben. Deren Ergebnisse hat die Techniker-Krankenkasse bewogen, ihren Hamburger Versicherten in einem einjährigen Pilotprojekt die Tinnitracks-App ohne Zusatzkosten anzubieten. Susanne Klein, bei der TK für neue Versorgungsangebote zuständig, betont die Vorzüge.
"Ne Therapie, die auch einfach angenehm ist. Ich muss keine Gerätschaften tragen, ich hab ganz normal meine Kopfhörer. Ich kann weitesgehend meine Lieblingsmusik hören. Die App prüft auch, ob die Musik geeignet ist, das zeigt sie einem über ein Ampelschema an."
Fast drei Millionen Tinnitus-Betroffene in Deutschland
Popmusik erhält häufiger grünes Licht als Klassik oder Jazz, da Pop eher über das erforderliche Energielevel im relevanten Frequenzbereich verfügt. Insgesamt etwa 2,7 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischem Tinnitus, hören also Tag und Nacht einen ununterbrochenen Pfeifton. Die meisten Betroffenen haben schon so einiges ausprobiert, um das andauernde Pfeifen wegzukriegen.
"Das ist so'ne Odyssee, die die Patienten durchlaufen, bis sie das für sich richtige finden. Viele gehen in ne Psychotherapie. Das ist ein langwieriger Prozess, da überhaupt erstmal einen Platz zu kriegen, also das ist schon ne Odyssee, die die durchlaufen."
Eine Odyssee, die Sie bezahlen.
"Die wir bezahlen, natürlich. Wir erhoffen uns jetzt von dem Einsatz von Tinnitracks, diese Odyssee zu vermeiden, zu verkürzen, zu helfen und natürlich Psychotherapie und ähnliche Folgekosten zu vermeiden."
Bevor allerdings ein Betroffener überhaupt ausprobieren kann, ob Tinnitracks bei ihm wirkt, muss ganz genau bekannt sein, welches die eigene Tinnitus-Frequenz ist. Mit der App kann sie ermittelt werden - zumindest potentiell. Der Nutzer muss innerhalb der App verschiedene Töne mit dem eigenen Ohrgeräusch vergleichen, den eigenen Pfeifton unter den angebotenen finden und bestätigen. Erst nachdem das mehrfach hintereinander erfolgreich geschehen ist, wird die Frequenz als ermittelt angenommen.
Ein Vorgang, der alles andere als einfach ist, den man aber auch bei einem HNO-Arzt versuchen kann. Christa Wilcke gehört zu den das Tinnitracks-Projekt begleitenden HNO-Ärzten in Hamburg. Auch in ihrer Praxis stellt die Ermittlung der Tinnitus-Frequenz eine hohe Hürde dar.
"Das ist wirklich sehr, sehr schwierig, das muss man trainieren. Wenn man sich vorstellt, man möchte ein Geräusch, das man den ganzen Tag nicht hören sollte, auf einmal genau dimensionieren - wie laut ist es, wie leise, ist es ein bisschen höher, ein bisschen tiefer und soll das genau wiederholt festlegen - auf ein ja/nein antwortet hier keiner, sondern er muss es wirklich mit der Frequenz festlegen; das ist nicht nur ne hohe Disziplin-, sondern auch Konzentrationsleistung, die nicht jeder schaffen kann."
Und funktioniert dementsprechend auch nicht immer.
"Wir haben gerade eben einen Patienten, der aus Köln kommt, wieder nach Hause schicken müssen, weil er es im Moment nicht hinkriegt. Das ist leider dramatisch, aber das ist so."
Kostenlose Testversion
Christa Wilcke ist seit gut 20 Jahren auf Tinnitus-Behandlung und -Forschung spezialisiert.
Auch wenn die App erst seit Oktober getestet wird, ist die Art der Therapie doch schon lange bekannt.
"Insgesamt gibt's die Messungen und Studien dazu schon viele Jahre. In anderen Ländern gibt es diese Behandlung auch schon viel länger als bei uns. Wir hatten ein ähnliches Konzept, das war eine Neuromodulation, schon vor Jahren, die hatte auch Erfolge. Das funktionierte schon sehr gut, ist mühsam, aufwendig und konzentrationsbedürftig. Das ist Tinnitracks jetzt auch, man braucht dazu einen wachen Geist und vielleicht auch ein bisschen Geduld, Disziplin, selbst üben zu wollen, aber die Erfolge sind so ganz nett. Die Studien, die wir jetzt haben, lassen selbst die Versicherungen dazu über gehen, zu sagen, wir würden das gerne den Patienten anbieten, das scheint hilfreich zu sein."
Rund 30 Prozent ihrer Praxisbesucher seien Tinnitus-Patienten, seit dem Start der App hätte sich das sogar noch gesteigert, sagt Christa Wilcke. Die Betroffenen sind gut miteinander vernetzt, die App hat sich schnell rumgesprochen. Wenn die Therapie erfolgreich ist - und das ist sie, wenn bei vielen Patienten langfristig die Ohrgeräusche verringert werden -, soll die App allen Versicherten der Techniker Krankenkasse kostenlos angeboten werden. Andere Krankenkassen könnten mit ähnlichen Angeboten nachziehen.
"Wir begleiten das mit ner Befragung, wir befragen die Versicherten, wir kucken uns den Erfolg an, wir befragen die Ärzte dazu und werden am Ende des Piloten, also nach 12 Monaten, ne Auswertung machen und kucken, wie erfolgreich das ganze gewesen ist."
Wer die App einfach mal ausprobieren möchte, kann sie testweise für die Nutzung von fünf Musiktiteln kostenlos herunterladen. Wenn die Hürde der Tinnitusfrequenzermittlung überwunden ist und man auch tatsächlich 90 Minuten täglich hört, könnte recht schnell, wenn auch zunächst nicht lange anhaltend, eine Minderung des Ohrgeräuschs eintreten, das zeigen die Ergebnisse der nicht repräsentativen Studien.
Mehr zum Thema