Falls Sie überlegen eine Vormundschaft für minderjährige Flüchtlinge zu übernehmen, finden Sie weitere Informationen zu dem Verein Akinda im Internet:
Familienersatz mit gewisser Distanz
Für minderjährige Flüchtlinge, die ohne ihre Eltern nach Deutschland kommen, übernimmt in der Regel übernimmt das Jugendamt oder ein Amtsgericht die Vormundschaft. Sie sind oft aber für zu viele Mündel zuständig, um sich wirklich kümmern zu können. Bei Privatpersonen ist das anders.
Friederike Terhechte-Mermerhoglu wartet auf Jean-Pierre. Bis der junge Mann auftaucht, lässt sie die sechs Jugendlichen in dem kleinen Schulungsraum Tische und Stühle umbauen. Es ist Donnerstagabend, Vorbereitungskurs zum mittleren Schulabschluss, den Friederike für Mädchen und Jungs mit Migrationshintergrund anbietet. Im Hauptberuf arbeitet die 54-Jährige als Lehrerin an einer Ganztagsschule, den Kurs übernimmt sie ehrenamtlich. Ebenso wie die Vormundschaft für den zu spät kommenden Jean-Pierre. Seit zwei Jahren ist Friederike Terhechte-Mermerhoglu ganz offiziell für den 17-Jährigen aus Guinea zuständig.
"Ich hab das immer schon vorgehabt, weil ich mir gedacht habe, das Spenden und dann wieder zum Alltagsgeschäft übergehen, das möchte ich nicht. Es gibt genug zu tun vor der Türe. Ich würde gerne mich persönlich auch mit Zeit und mehr Einfluss auf mein eigenes Leben einbringen. Weil diese Parallelwelten finde ich für mich nicht lebbar."
Deshalb wendet sich Friederike vor zwei Jahren an den Verein Akinda. Dieser sucht dringend für den damals 15-jährigen Jean-Pierre einen Vormund: Der Junge muss wegen Lymphknotenkrebs ins Krankenhaus.
"In dem Zusammenhang habe ich ihn kennen gelernt, hab' ihn dann auch im Krankenhaus besucht, diese Gänge danach mit ihm gemacht, zu Kontrolluntersuchungen. Dann hieß es, nein, er ist doch volljährig, er ist doch 18. Dann wurde mir die Vormundschaft wieder abgenommen. Und ein halbes Jahr später erfuhr ich, dass er dann doch nicht volljährig war, sondern erst 16. Und ich bekam ein Schreiben vom Amtsgericht Schöneberg - nachdem ich fragte: was ist denn jetzt mit der Vormundschaft -, ja, die ist ja nie erloschen."
Seitdem ist Friederike zuständig. Allerdings wohnt Jean-Pierre nicht bei ihr, sondern in einer Jugend-WG. Sie sieht ihn mindestens einmal wöchentlich, zum Beispiel beim Deutschkurs - heute taucht er jedoch nicht mehr auf. Friederike beginnt ohne ihn.
"Es ist so was wie eine Einbahnstraße"
Friederike lernt Deutsch mit Jean Pierre, sie hilft ihm bei Behördengängen und geht mit ihm zum Arzt. Die beiden sprechen über Schulfragen, Freizeitgestaltung und Berufplanung, aber auch über Persönliches wie Hygieneregeln und sogar das heikle Thema Verhütung. Geburtstag, Weihnachten, Ostern feiert Jean-Pierre oft mit Friederike und ihren beiden erwachsenen Kindern. Trotzdem bleibt eine gewisse Distanz, die Friederike wichtig ist. Sie will den Jungen nicht abhängig machen, sondern selbstständig.
"Man könnte sagen, es ist so was wie eine Einbahnstraße. Ich gebe viel rein und schminke mir so was wie Dankbarkeit ab. Es geht nicht um Dankbarkeit. Sieh mal was ich Tolles für dich tu', bist du mir denn wenigstens dankbar dafür? Das sollte man bei den eigenen Kindern nicht tun und erst recht nicht mit Mündeln. Es ist kein Kinderersatz, es ist auch keine Freizeitbeschäftigung oder missionarisches Tun. Sondern es ist eine Hilfe zur Selbstständigkeit, zur Entwicklung zum selbstständigen Leben in Deutschland."
Eine Woche später. Friederike steht auf dem Hof ihrer Schule in Berlin Kreuzberg, wartet schon wieder auf ihr Mündel Jean-Pierre. Dieses Mal haben die beiden einen wichtigen Arzttermin, Friederike greift deshalb zum Telefonhörer.
"Ich hab dir gesagt, du sollst zu meiner Schule kommen."
Jean Pierre wartet am falschen Ort. Friederike verdreht kurz die Augen, fährt ihn holen.
"Aber wieso sollte das anders sein, als bei allen anderen Jungs..."
Am U-Bahnhof steigt der Junge ins Auto. Gemeinsam fahren beide zum Orthopäden, eine alte Fußballverletzung schmerzt ihn wieder. Auch mit ihrem zweiten Mündel - Mohammed aus Sierra Leone - war Friederike in letzter Zeit häufig bei Fachärzten. Das Amtsgericht hat das Alter des Jugendlichen angezweifelt. Wie fast alle minderjährigen Flüchtlinge, so hat auch Mohamed keinen Pass mehr und weiß offiziell nichts über seine Herkunft. Also finden Knochen - und Gebissuntersuchungen statt, um das Alter zu bestimmen. Mohammed soll jetzt plötzlich nicht mehr 16, sondern 19 Jahre alt sein und keinen Vormund mehr brauchen. Friederike will sich jedoch weiterhin um den jungen Mann kümmern. Auch Jean Pierre gibt sie nicht auf, wenn er nächstes Jahr 18 wird. Die Jungs brauchen sie. Den Arzttermin heute hätte Jean Pierre zum Beispiel ohne ihren Anruf in der Praxis nicht so schnell bekommen.
Titel "deutsche Mama"
Im Wartezimmer nutzt Friederike die Gelegenheit, ihr Mündel nach Schule, Freunden und dem geplanten Umzug in eine eigene Wohnung zu fragen. Der junge Mann ist zwar eindeutig keine Plaudertasche, Friederike erzählt er jedoch immerhin wie es bei ihm gerade so läuft. Von seiner Familie reden die beiden nie, Friederike fragt ganz bewusst nicht danach. Jean Pierre hat bei der Einreise angegeben, dass seine Eltern tot sind. Auch alle anderen Familienmitglieder hat er seit vier Jahren nicht gesehen, vermisst sie:
"Ja, manche vermissen das so halt. Also ich meine, wenn man bei den Eltern aufwächst und so, ja ich kann das nicht beurteilen, aber ich kann nur sagen, dass manche das nicht kennen."
Friederike ist für Jean Pierre deshalb mehr als nur ein Vormund. Sie ist auch ein bisschen Familienersatz.
"Ich muss sagen, gut dass sie für mich da ist. Lacht. Das ist sehr ... Mit Friederike läuft's super, was Schlechtes kann ich nicht sagen. Wenn ich einen Termin habe, dann treffe ich mich mit ihr, aber wenn ich keinen Termin habe, dann beschäftige ich mich mit was anderem."
Kein Wunder, dass Jean-Pierre Friederike seine deutsche Mama nennt, wenn er von ihr redet. Das fand sie anfangs gewöhnungsbedürftig. Aber mittlerweile hat sie sich an den Titel gewöhnt:
"Ich bin keine Afrikanerin und ich denke, viele Lebensbilder haben mit meinen Lebensbildern nichts zu tun, weil sie mir fremd sind. Und ich will ihn auch nicht ummodeln. Ich will ihn nicht zum guten Deutschen machen, sondern ich will, dass er ein starker Afrodeutscher wird, das wäre ein Ziel, was wir gemeinsam verfolgen können."
AKINDA - Netzwerk Einzelvormundschaft BerlinAnsprechpartner: Claudia Schippel und Barbara Noske
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