Hilferuf

Bundeswehrverband sieht Armee an der Grenze ihrer Kapazitäten

Ein Aufklärungsflugzeug vom Typ Awacs startet am in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen) auf dem Nato-Luftwaffenstützpunkt.
Ein Aufklärungsflugzeug vom Typ Awacs startet am in Geilenkirchen in Nordrhein-Westfalen auf dem Nato-Luftwaffenstützpunkt. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Stephan Detjen |
Zu wenig Personal, zu wenig Material. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, sieht die deutsche Armee am Limit und fordert - angesichts der zunehmenden Zahl von Einsätzen - dringend mehr Soldatinnen und Soldaten.
Und schon wieder packen Bundeswehrsoldaten das Marschgepäck: jetzt im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen. Unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden liegt dort der Militärflugplatz, auf dem die NATO ihre AWACS Aufklärerflotte stationiert hat. Mehrere der Maschinen sollen in Kürze auf den Stützpunkt Konya in der Türkei verlegt werden, um den türkischen Luftraum zu überwachen. Das bestätigte heute das Bundesverteidigungsministerium.
Knapp ein Drittel der AWACS-Besatzungen besteht aus Soldaten der Bundeswehr. Ein Mandat des Bundestages ist für ihren Einsatz nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums nicht erforderlich, da die Aufklärungsflugzeuge allein zur Luftraumüberwachung und nicht zur Unterstützung von Kampfhandlungen in Syrien eingesetzt werden sollen. Entsprechend hat das Ministerium auch die zuständigen Ausschüsse des Bundestages unterrichtet.
Zeitgleich kommen aus Truppe Wortmeldungen, die man nicht anders denn als Hilferuf bezeichnen kann:
"Also, die Bundeswehr ist gut ausgebucht, in Teilen überbucht, das muss man ganz klar sagen."
Das sagt der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner heute im Deutschlandfunk Interview der Woche. Die Armee stecke nach wie vor mitten in einer noch nicht abgeschlossenen Neuausrichtung, erklärt der Chef des Interessenverbandes, der rund 200.000 aktive und ehemalige Soldaten vertritt. Niemand habe zu Beginn der Bundeswehrreform vor fünf Jahren vorhergesehen, welche Herausforderungen auf das Militär durch die Krisen in der Ukraine, im Nordirak, in Syrien und die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes zukämen:
"Deswegen muss man hier aktuell sagen: Wir sind absolut im roten Bereich und es ist wichtig, dass die Ministerin, das Parlament, jetzt nachsteuert, denn wir haben eine Lageänderung. Und all das, was wir machen sollen, das geht mit dem jetzigen Personal und Material so nicht mehr weiter."
Bundeswehr ist eine Einsatzarmee
Viele hätten noch nicht verstanden, dass die Bundeswehr nicht mehr eine Wehrpflicht-, sondern eine Einsatzarmee sei, sagt der der Chef des Bundeswehrverbandes. Als der Bundestag Anfang Dezember die Syrien-Mission beschlossen habe, sei noch einmal deutlich geworden, wie schnell das Parlament die Soldaten in den nächsten Einsatz schicken könne.
Auch den Parlamentariern ist dabei bewusst, was sie der Armee in diesen Zeiten abverlangen. Als der Bundestag Anfang dieses Monats im parlamentarischen Eiltempo die Entsendung deutscher Soldaten in die internationale Koalition zur Bekämpfung des IS in Syrien schickte, stand das Parlament nicht zuletzt vor der Frage, ob die Truppe für diesen Einsatz überhaupt gewappnet ist:
"Das ist sie. Das, was jetzt auf die Bundeswehr zukommt, wird sie leisten können."
Das beteuerte damals der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans Peter Bartels, im Deutschlandfunk. Auch Bartels aber gestand zu, dass die Armee am Rande ihrer Kapazitäten steht:
"Ich will mal darauf hinweisen, dass innerhalb eines Jahres eine Menge neuer Aufträge auf die Bundeswehr zugekommen sind. Das geht los mit der NATO Response Force, für die Deutschland fast 5000 Soldaten stellt, geht weiter mit der Flüchtlingshilfe, für die im Moment 8000 Soldaten im Einsatz sind, und die Out-of-Area-Mandate, die vom Bundestag zu erteilenden Mandate für internationale Missionen, verdoppeln sich auch nahezu, wenn Mali dazukommt, Syrien dazukommt, das Mittelmeer jetzt dazugekommen ist. Das ist schon ordentlich an der Belastungsgrenze."
Höchstens 140.000 Soldaten für Einsätze verfügbar
Rund 185.000 Soldaten stehen derzeit bei der Bundeswehr im Dienst. Nach Einschätzung des Bundeswehrverbandes sind davon nur etwa 130.000 bis 140.000 für Einsätze verfügbar. Der Rest stehe in Ausbildungsmaßnahmen oder in Übergängen zwischen verschiedenen Verwendungen. Gefragt seien Spezialisten. In vielen Bereichen aber fehle es an Tiefe der Kompetenzen und an Durchhaltefähigkeit. André Wüstner nennt ein Beispiel:
"Wenn man überlegt – das ist aktuell so ein bisschen das Schizophrene –, im Nordirak bauen zivile Firmen unser Feldlager auf, während andere Teile in Deutschland im Rahmen der Flüchtlingshilfe den Lageraufbau unterstützen. Das ist schon irgendwo ein Wahnsinn. Da merkt man, dass wir in vielen Bereichen nicht die ausreichende Tiefe haben."
Der Bundeswehrverband schätzt den akuten Personalbedarf auf 5000 bis 10.0000 Soldatinnen und Soldaten. Besonders im Bereich der unteren Dienstgrade könne es durch Neueinstellungen oder die Verlängerung von Verpflichtungszeiten schnell zu einer Entlastung kommen.
Der Handlungsdruck ist auch in der Politik anerkannt. In einem Interview der Bild am Sonntag sagte Bundesfinanzminister Schäuble steigende Ausgaben für Militäreinsätze voraus. Schäuble sprach sich insbesondere für gemeinsame europäische Anstrengungen aus. Die Sicherheitpolitik der EU Mitglieder müsse enger verzahnt werden. Letztlich gehe es darum, eine europäische Armee zu schaffen, sagte Schäuble. Der Finanzierungsdruck könnte sich als wirksamste Schubkraft für diese Ur-Idee des vereinten Europas erweisen.
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