Archäologie – so spannend wie ein Thriller
"Die Himmelsscheibe von Nebra ist vielleicht das bedeutendste archäologische Fundstück Deutschlands", sagt der Archäologe Harald Meller. Aber auch die Geschichte ihrer Entdeckung liest sich wie ein Krimi.
Andrea Gerk: Archäologie ermöglicht das, wovon die Menschheit schon immer träumt, aufregende Reisen in die Vergangenheit zu unternehmen. In die Welt vor 3600 Jahren nimmt uns jetzt ein Buch mit über die Himmelsscheibe von Nebra, erscheint genau pünktlich zur großen Archäologieausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau und bei mir sind jetzt die beiden Verfasser, der Wissenschaftsjournalist und Autor Kai Michel und der Archäologe und Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, Harald Meller. Herzlich Willkommen, schön, dass Sie hier sind!
Harald Meller: Dankeschön für die Einladung!
Gerk: Herr Meller, schon allein der Fund dieser Himmelsscheibe von Nebra, das war ja spektakulär. Sie haben sich da quasi als Sherlock Holmes betätigt, als dieser Bronzeschatz 1999 gefunden wurde, haben Sie dann drei Jahre später auf einer Schweizer Herrentoilette der Polizei geholfen, was ist da genau passiert 2002?
"Als würde man an einem Thriller teilnehmen"
Meller: Ich habe natürlich erfahren, dass es diese Himmelsscheibe gibt, dass die von Raubgräbern gefunden wurde, aber das ist dann sehr, sehr schwer, die zu erlangen. Man kann dann versuchen, die irgendwie zu kaufen, dann muss man aber dann die Geschichte mitkaufen. Und das ist für einen Archäologen unbefriedigend, man möchte die Täter haben, man möchte die Täterkette haben, vor allem möchte man den Fundort kennen und die Authentizität des Fundes insgesamt bestätigen können.
Das ist sehr, sehr schwer und da muss man ein erhebliches Risiko eingehen und das kann man nur kriminologisch zusammen mit der Polizei machen. Und das hat ein Jahr gedauert, war extrem aufregend, so richtig, als würde man an einem Thriller teilnehmen. Vor allem dann der Showdown in Basel war natürlich ganz aufregend, ich wusste ja nicht, ob der Mann, der da dabei war, eine Waffe hatte, sonst hätte ich einfach die Scheibe gepackt und wäre abgehauen.
Ich wusste auch nicht, ob ich nicht der Polizei verloren gegangen war, sodass das wirklich spannend war, aber es ist gelungen, diesen Fund zu kriegen, und wenn man den in der Hand hält und man weiß, man hält eines der wichtigsten Dokumente der Menschheitsgeschichte in der Hand, dann ist das schon aufregend. Und gleichzeitig ist es auch aufregend, wenn es in so einem Kriminalfall steckt.
Gerk: Das erlebt man als Archäologe wahrscheinlich auch nicht alle Tage oder?
"Die archäologische Realität sind Archive"
Meller: Nee, überhaupt nicht. Man sieht zwar immer Indiana Jones, aber das ist ja nicht die archäologische Realität. Die archäologische Realität sind Archive, ruhige Arbeit am Schreibtisch, aber nicht sowas.
Gerk: Und Herr Michel, war das das, was Sie daran gereizt hat? Ich nehme es nicht an, Sie sind ja Wissenschaftsjournalist.
Kai Michel: Das war natürlich eine wunderbare Art und Weise, einen Einstieg zu schaffen in ein archäologisches Thema. Also wir haben ja dann all diese ganzen Welten des Kosmos, erste Kalenderregeln… Aber dass man eben einen sehr populären Eingang wählen konnte und über diesen Krimi dann in dieses Buch hereinkommt.
Und es geht ja dann weiter: Es gab einen Prozess, es gab Fälschungsvorwürfe, und da begann ja meine Geschichte auch damit. Damals kam bei mir der Anruf, dass die Himmelsscheibe eine Fälschung sei, deshalb habe ich das recherchiert, dann auch mit Harald gesprochen.
Und insofern sind wir beide oder habe ich einen Teil an dieser Geschichte mit und bin dann da hineingeschlittert und es war wunderbar, was sich aus so einem Zufallsfund dann ergeben hat. Dass quasi eine ganze Welt entsteht, die man dann rekonstruieren kann, die dann vom Herrenklo in Basel im Hilton jetzt bis in die Ausstellung im Gropius-Bau führt.
Gerk: Also ein Krimi auf mehreren Ebenen. Herr Meller, Sie haben jetzt viele Jahre auch diese Himmelsscheibe und die Kultur, die dazugehört, erforscht. Was ist denn das überhaupt für eine Scheibe, was hatte sie für eine Funktion, ist das ein Messinstrument gewesen, ein bloßes Schmuckstück, was ist das?
Die Vorgeschichte als Vorläufer der Moderne
Meller: Ja, die Scheibe hat uns die Gelegenheit gegeben, diese Bronzezeitkultur zu erforschen. Und wir sind auf eine lange Reise gegangen, wir haben 15 Jahre geforscht, erst in die falsche Richtung, dann wieder in eine andere Richtung, so wie das ist in der Forschung.
Die Himmelsscheibe selbst ist vielleicht das bedeutendste archäologische Fundstück Deutschlands, auf alle Fälle unglaublich bedeutend, um uns erkennen zu lassen, dass die Archo-Astronomie etwas ganz Wichtiges ist, dass die vorgeschichtlichen Menschen wesentlich bessere Kenntnisse vom Sternenhimmel und den dahinterliegenden Regeln hatten, als wir dachten.
Und wir haben ganz lang gerätselt, wie die Menschen auf dieses Wissen kamen. Am Ende ist es am wahrscheinlichsten, dass dieses Wissen im vorderen Orient erworben wird durch Reisen einzelner Menschen dorthin und dass dies dann in genialer Weise auf diese Scheibe übertragen wird, die selbst ja schon international ist, weil die Metalle zum einen aus den Alpen, zum anderen aus Cornwall stammen und schon die weitgezogenen Handelsgeflechte zeigen.
Viel wichtiger sind aber diese geistigen Einflüsse. Und das war schon extrem spannend, das zu erforschen. Noch spannender war aber im Endeffekt, dass wir diese ganze Kultur in den Blick bekamen und sahen, dass dort zum ersten Mal eine Art Staatswesen entsteht, mit Grenzen, mit Institutionen, mit Hierarchie – also etwas ganz Dauerhaftes, was eigentlich ganz modern ist, weil zum ersten Mal der Mehrwert in den Vordergrund tritt und die Leute seriell Dinge herstellen in großer Zahl. Wenn man so will, die Produktion des VW Golfs beginnt in der Bronzezeit, also eine serielle Produktion, und damit unsere moderne Welt.
Und das ändert alles, das schafft Armeen, Staat, und so weiter. Das ist zum ersten Mal auf der Welt und das ändert vieles und führt in einer gewissen Weise in unsere Welt.
Gerk: Sie sagen ja, Herr Michel, in dem Buch, es sei das mächtigste Reich, von dem Sie noch nie gehört haben. Warum weiß man darüber so wenig – oder wusste, jetzt kann man es in Ihrem Buch ja alles nachlesen.
Michel: Das ist gerade das, was uns am meisten fasziniert hat, die Geschichte des alten Ägyptens, von Mesopotamien, die sind uns vertraut, das lernen wir alles in der Schule. Aber unsere eigene Vergangenheit ist uns fast unbekannt.
Das Reich, also die Kultur von Aunjetitz ist natürlich Archäologen schon lange bekannt. Aber durch den Fund der Himmelsscheibe ist ja eine Forschungsoffensive ausgelöst worden, die einfach in den letzten Jahren neue Ausgrabungen, neue Metalluntersuchungen initiiert hat. Dank der Genetik sind wunderbare Dinge herausgekommen über die Menschen, also das liefert ja quasi Fleisch an die Knochen. Und man kann auch durch Isotopen-Analyse an den Zähnen feststellen, wo die Leute herkommen und all dieses…
Also lange Rede, kurzer Sinn, wir sind jetzt erst überhaupt in der Lage, dank des wissenschaftlichen Fortschritts in der Archäologie, diese Geschichte, diese Kultur zu rekonstruieren. Und das war eben das Abenteuer, was wir unternommen haben in diesem Buch.
Gerk: Aber Sie betreiben dann ja quasi mit dem Material, was Sie erforschen und finden, so etwas wie eine Textauslegung, habe ich gedacht, das ist ja viel Interpretation. Sie nennen das faktenbasierte Spekulationen. Ist das dann eigentlich, wenn man das am Ende so liest, das ist auch sehr packend geschrieben in Ihrem Buch, eigentlich ein Roman?
Vorgeschichte in Geschichten
Meller: Nein, überhaupt nicht. Das ist das, was ich wissenschaftlich für am wahrscheinlichsten halte. Und mein Co-Autor, mit dem ich das diskutiert habe, auch. Und dann haben wir ganz viele Wissenschaftler, die führend sind in Europa, beteiligt und denen die Texte geschickt, und die fanden es auch sehr, sehr plausibel.
Meines Erachtens muss man den Menschen über die Vorgeschichte mal Geschichten erzählen, aber Geschichten, die sozusagen sehr, sehr wahrscheinlich sind, die eine faktenbasierte Evidenz haben – und das ist dort so. Ich würde sagen, soweit kann man gehen, und das halte ich alles für hochwahrscheinlich, wenn wir von Armeen sprechen, dann haben wir dort eine Evidenz, wenn wir von einer Stabilität in einem Staatsgebiet sprechen, dann haben wir eine Evidenz, für die Fürsten haben wir eine Evidenz. Das ist schon alles sehr, sehr gut belegt, wir sind immer noch deutsche Wissenschaftler, die nicht fantasieren, wir machen das schon ganz ordentlich.
Es ist nur so, in der Vergangenheit ist wenig erzählt worden zur Vorgeschichte, das man sozusagen nachvollziehen kann, da hat man immer von Eliten gesprochen. Man spricht dann irgendwie von Hierarchien, man spricht von strukturierten Gesellschaften, man spricht von Stammesgesellschaften, das ist alles, das sagt den Leuten nicht viel. Man muss das eigentlich übersetzen in eine Sprache, die man versteht, und man muss die Relevanz für unsere Welt sehen. Und das hängt zusammen mit den neuen Forschungen, das war vor zehn Jahren noch nicht möglich.
Durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und durch unsere riesige Forschungsgruppe, die daraus entstand, ist es nun möglich, diese Sachen so zu interpretieren, und das ist ja nicht meine Weisheit als Forscher, sondern das ist die Weisheit der vielen Kollegen, die mitgearbeitet haben, in der Anthropologie Herr Professor Alt, die fantastischen Kollegen des Max-Planck-Instituts in Jena, die die ganzen Knochenuntersuchungen machen, unser Chemiker, Herr Wunderlich, und viele andere. Und da haben wir ein Netzwerk über Europa, das von Prag mit Herrn Kollegen Ernée bis nach Barcelona geht zu Herrn Professor Risch.
Und die alle haben zusammengearbeitet und jeder hat sozusagen einen Baustein dazu beigetragen und ich dachte, das ist einfach wichtig, das man Forschung auch mal so darstellt, dass die Leute sehen, was für eine ungeheure Relevanz für unser Leben das hat. Und das hat es tatsächlich. Die Erforschung dieser vorgeschichtlichen Modelle hat eine unmittelbare Relevanz für unser Leben.
Gerk: Inwiefern?
Egalitäre Gesellschaft
Meller: Na ja, wenn Sie sehen, dass der Großteil der Menschheitsgeschichte, als die Menschen Jäger und Sammler sind, es völlig egalitär zugeht. Es gibt nicht arm und reich. Und dann beginnt das Neolithikum, da gibt es zwar die Bevölkerungsexplosion, aber arm und reich gibt es auch noch nicht richtig, es gibt die Umverteilung, es werden Reichtümer erzeugt, die werden allgemein umverteilt.
Und plötzlich kommt es zu einer Konzentration von Reichtum, es gibt unglaubliche Reiche und es gibt vergleichsweise Ärmere und es gibt vor allem ein unglaubliches Machtgefälle. Und da fragt man sich, warum ertragen die vielen, dass einer alle Macht hat? Warum ertragen die vielen, dass eine kleine Elite über die Reichtümer verfügt? Und das ist nicht so einfach und das ist Ideologie.
Und die einen, die über die Reichtümer verfügen, erfinden gleichsam eine Ideologie, die das legitimiert und die anderen dazu bringt, das zu glauben. Das ist Religion in der damaligen Zeit. Und seit dieser Zeit hat sich eigentlich der Unterschied zwischen arm und reich kaum geändert bis heute.
Gerk: Das heißt, wir können richtig was lernen, auch wenn wir in die Ausstellung gehen, wegen der Sie ja jetzt hauptsächlich hier in Berlin…
"Die Ausstellung ist fantastisch!"
Meller: Die Ausstellung, ich darf das sagen, ist fantastisch! Da sind die tollsten Funde Deutschlands, alle sollten in diese Ausstellung gehen, nicht wegen der Himmelsscheibe, sondern wegen der anderen grandiosen Funde dort.
Gerk: Haben Sie denn die Himmelsscheibe selbst hierher gebracht, weil die wird ja sonst nicht ausgeliehen?
Meller: Die Himmelsscheibe wird auf einem geheimen Weg hierher gebracht, damit keiner weiß, wo sie ist, denn wir wollen ja nicht einen Golmützenfall erleben.
Gerk Harald Meller und Kai Michel, vielen Dank, dass Sie hier bei mir waren. Und das Buch "Die Himmelsscheibe von Nebra – der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas" ist im Propyläen Verlag erschienen und hat 384 Seiten und kostet 25 Euro. Und die Ausstellung ist im Martin-Gropius-Bau ab morgen zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.