Hinter Arno Schmidts Fassade

13.03.2012
Arno Schmidts Jugend war geprägt von häufigen Wohnortwechseln, von der Suche nach Orientierung und traumatischen Erfahrungen. Dieser Materialienband verschafft nun Einblick in die frühen Jahre des Autors in Görlitz, Lauban und Greiffenberg.
Man kennt Arno Schmidt heute vor allem als den Eremiten von Bargfeld, den menschenscheuen, ganz in seine Arbeit vergrabenen Heidebewohner. Dass das Leben des 1914 in Hamburg geborenen Schriftstellers lange Zeit durchaus bewegt und von häufigen Wohnortswechseln geprägt war, ist wenigen bewusst. Ein Materialienband verschafft nun Einblick in Schmidts frühe Jahre in Görlitz, Lauban und Greiffenberg: "Wu Hi?", herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach.

Nach dem Tod des Vaters war Arno Schmidts Mutter mit ihrem 14-jährigen Sohn von der Hansestadt zurück in ihre schlesische Heimat gezogen, eine Gegend, die Schmidt zuvor kaum kannte und auch während er in Görlitz zur Schule ging und später dann in Lauban zu arbeiten anfing, nicht gerade lieben lernte. Die "unsägliche Einsamkeit und Bitterkeit jener Jahre" hingen jedoch vor allem mit der, wie es ihm einmal entfährt, "Verderbtheit" der Mutter zusammen: "ich habe keinen Menschen kennen gelernt, der in gleichem Maße mit kleinen Verlogenheiten und verblasenen Gefühlchen hausieren gegangen wäre."

Der Titel "Wu Hi?" ist einer Anekdote über den schlesischen Zungenschlag entnommen – und steht nicht zuletzt für Schmidts Orientierungssuche in jenen Jahren. Die traumatischen Erfahrungen der Kindheit und Jugend mögen mit Ursache dafür sein, dass Schmidt erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit reifen 35 Jahren, zum Schriftsteller avancierte. Liest man die vielfältigen Briefe und Erinnerungen, drängt sich allerdings auch der Gedanke auf, dass es gerade der Krieg gewesen sein könnte, der Schmidt endlich zum Schriftsteller machte, die plötzliche Gewissheit, dass alles schnell vorbei sein kann und man besser tut, was man wirklich will und für wert hält, getan zu werden. Die 30er-Jahre nämlich hatte Schmidt erst als kaufmännischer Lehrling, dann als Lagerstatistiker im größten Bekleidungsbetrieb des Reiches zugebracht. Zwar schrieb er da schon Gedichte und plante Novellen, doch nicht nur die Brotarbeit, auch seine Zahlenbesessenheit raubten ihm fast alle Zeit: "Diese verteufelte, diese verdammte Logarithmentafel! Hunderte von Stunden hat sie ihn gekostet", klagte später ein Arbeitskollege.

Da war die Leidenschaft für die Literatur freilich sehr ausgeprägt vorhanden. Als sein Freund Heinz Jerofsky in Paris einmarschiert, interessiert Schmidt einzig die Möglichkeit, an einen Band von Alexander von Humboldt zu gelangen, den er im Louvre vermutet. Außerdem wünsche er sich ältere Literatur von vor 1800: "Großkalibrige Bände bevorzugt".

Bescheidenheit war Schmidts Sache nicht. In den Briefen an Jerofsky ist davon die Rede, man müsse die Nachwelt mit dem eigenen "Esprit rasend machen". Gerne unterschreibt er mit "Wir, arno von eigenen Gnaden" (sic), oder schlicht mit einem unterstrichenen "Ich!". Auch die vielen Fotografien in diesem sehr informativen und reichhaltigen Buch zeigen einen Menschen mit scharfen, abweisenden Zügen, die Soldatenfotos aus den 40er-Jahren wirken schneidig und selbstbewusst. Nun wissen wir, dass es hinter Arno Schmidts Fassade nicht ganz so aufgeräumt aussah.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Jan Philipp Reemtsma, Bernd Rauschenbach (Hg.): Wu Hi? Arno Schmidt in Görlitz, Lauban, Greiffenberg
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
252 Seiten, 8,99 Euro
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