Hinter einer Mauer der Feindseligkeit

Von Claudia Steinberg |
Precious, die 16-jährige Heldin des gleichnamigen Films von Lee Daniels, ist ein im Dreck und Elend des Slums verschüttetes Juwel. Vom Vater missbrauchtes Inzestopfer mit zwei Kindern, schafft die junge Frau es aus eigener Kraft doch, sich im Leben durchzuboxen und ihre Würde zurückzuholen.
Nichts, rein gar nichts ist kostbar im Leben der 16-jährigen Clarice Precious Jones aus Harlem: Seit ihrem dritten Lebensjahr wird sie immer wieder von ihrem Vater vergewaltigt, aus dem Inzest, für den ihre Mutter sie mit maßlos ungerechter Eifersucht hasst, ist bereits eine geistig behinderte Tochter hervorgegangen, ein zweites Kind ist unterwegs. In diesem zerstörerischen Milieu ist es ein trotziger Akt der Selbstbehauptung, wenn sich das 300 Pfund schwere Mädchen mit ihrem liebevollen Mittelnamen schmückt: "Precious", die Heldin des gleichnamigen Films von Lee Daniels, ist ein im Dreck und Elend des Slums verschüttetes Juwel. Gabourey Sidibe holte die hinter einem Wall von Fett und Feindseligkeit versteckte Seele des misshandelten Teenagers mit so viel Überzeugungskraft ans Tageslicht, dass sie für ihre allererste Rolle Oscar-nominiert wurde.

Auch Sidibe stammt aus Harlem - ihr Vater ist ein Taxifahrer aus dem Senegal, die Mutter eine Rhythm-and-Blues-Sängerin, die häufig in der U-Bahn-Station am Times Square auftritt. Sidibe ist davon überzeugt, dass Precious keine Fremde ist:

"Ich glaube, dass wir alle jemanden wie Precious kennen, dass wir jeden Tag an diesem Mädchen vorbeigehen, dass wir sie ignorieren, oder dass wir ihr, selbst wenn wir sie sehen, nicht helfen. Und ja, ich habe viele Leute wie sie kennengelernt."

Das gilt auch für den Regisseur, der seine Herkunft aus Philadelphias notorischer South Side und seine kriminellen Verwandten schon zur Legende stilisierte. In Cannes, wo "Precious" mit einer viertelstündigen Ovation gefeiert wurde, stellte er sich dem Publikum als ein bisschen Homo und ein bisschen Getto vor - als Außenseiter schlechthin. Mo'Nique, die für ihre Verkörperung von Precious' monströser Mutter den Oscar für die beste Nebenrolle erhielt, und Gabourey Sidibe fühlen sich darin dem erklärten Misfit Daniels verwandt:

"Was uns wirklich verbindet, ist die Vorstellung, das schwarze Pferd zu sein, der Underdog. Ich denke, dass in unserer Gesellschaft Frauen Underdogs sind. Genauso wie Schwarze und Schwule . Jeder, der anders, also kein heterosexueller weißer Mann ist, ist ein Underdog."

Daniels ging es nach eigenen Aussagen vor allem um die gnadenlose, politisch inkorrekte Untersuchung seiner eigenen Vorurteile: So hielt auch er dicke Menschen für dümmer, bis Sidibe ihn eines Besseren belehrte. Monatelang schien es ebenso aussichtslos, einen Produzenten wie einen Star für den Film zu finden: Daniels fahndete bei McDonald's und in den Shopping Malls amerikanischer Großstädte nach Precious, ehe er schließlich Sidibe unter 500 Bewerberinnen fand - mit dem fest verschlossenen Gesicht und dem unwilligen Ton, den die Psychologiestudentin ihrem Charakter verlieh, beeindruckte sie ihn innerhalb von Sekunden. Sidibe hatte mit sechs Jahren ihre erste Diät gemacht und maßlos unter ihrem unförmigen Leib gelitten, bis sie sich irgendwann mit ihm versöhnte:

"Ich erinnere mich daran, dass ich mich weniger niedergeschlagen fühlte, dass ich müde war und etwas in mir fand, was ich mochte, und daran hielt ich so lange fest, bis ich es lieben lernte."

Für die rund 127 Millionen übergewichtigen Amerikaner sind Sidibes viel zitierte Worte der Selbstakzeptanz so tröstlich wie der nie da gewesene Anblick einer adipösen Frau auf der Hollywoodleinwand. Dank ihrer authentischen Fettleibigkeit verwechselt ihr Publikum oft Rolle und Person: immer wieder fühlen sich Zuschauer zu jäher Intimität hingerissen und wollen ihre eigenen Erfahrungen teilen:

"Ich muss sagen, dass ich es recht unbehaglich finde, wenn mir wildfremde Menschen bei der Arbeit oder bei einer Party oder bei Starbucks ihre Geschichte erzählen."

Im Unterschied zu Sapphires Roman "Push", auf dem "Precious" basiert, verströmt der fast dokumentarisch anmutende Film großen Optimismus - sicherlich einer der Gründe, weshalb sich Oprah Winfrey als Executive Producer hinter ihn stellte.. Die glamourösen Tagträume, in die Precious in Augenblicken größter Not entrinnt, haben sich für Gabourey Sidebe als nahezu unheimlich akkurate Prophezeiungen erwiesen: Das blaue, mit Rheinkieseln verzierte Seidenkleid von Marchesa, das sie zu den Oscars trug, hätte einem Traum von Precious entstammen können.

"Mein Leben ähnelt jetzt einer Fantasie mit sehr viel Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die aus der Fantasie geboren wurde, aus der Fantasie, über rote Teppiche zu wandeln und Prominente zu treffen, aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass ich zwischendurch auch Interviews geben muss."
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