"Hinter weissen Wänden" von Julia Voss

Mimikry, Märchen und Macht

Kunstausstellung im Mai 2015 in der Hilti Art Foundation in Vaduz/Liechtenstein
Die makellos weißen Wände des Museums sind ein Inbegriff der Moderne: Kunstausstellung im Mai 2015 in der Hilti Art Foundation in Vaduz/Liechtenstein © dpa / picture alliance / Gian Ehrenzeller
Von Ingo Arend |
Kenntnisreich und lesenswert: "Hinter weißen Wänden" von Julia Voss ist eine Bestandsaufnahme des Kunstbetriebs. Die Kunstkritikerin der "FAZ" beschreibt einen Strukturwandel, in dem private Sammler immer mehr Macht haben – auf Kosten der öffentlichen Museen.
1974 hatte Michael Asher eine ungewöhnliche Idee. Für eine Ausstellung in der Claire S. Copley Gallery in Los Angeles entfernte der amerikanische Konzept-Künstler die Trennwand zwischen dem Büro- und dem Ausstellungsraum. Mit seiner Aktion wollte Asher den "einzigartigen Kultraum der Ästhetik" aufbrechen, den der irisch-amerikanische Künstler Brian O'Doherty zwei Jahre später in seiner legendären Schrift "Inside the White Cube" beschrieb: Geschäfte und Connections im Hintergrund, so Ashers Botschaft, "machen" ein Kunstwerk genauso wie der einsame Künstler im Atelier.
Machtverlust der öffentlichen Museen
Das Beispiel zeigt: Ganz neu ist Julia Voss' Forderung, "nicht nur über Kunst zu berichten und diese zu bewerten, sondern auch über die Hintergründe aufzuklären" nicht. In sieben Kapiteln resümiert die Kunstkritikerin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Jahrgang 1974, worüber im Kunstbetrieb nach ihrer Meinung zu wenig gesprochen wird: die Preispolitik der Galerien, Kunst als Geldanlage und die neue Macht der Sammler. Als entscheidendes Merkmal des "Strukturwandels" im Kunstbetrieb sieht sie den Machtverlust der öffentlichen Museen. Sammler wie der französische Industrielle François Pinault verfügten dagegen inzwischen über die gesamte Wertschöpfungskette - von der eigenen Sammlung über das Privat-Museum bis zum Auktionshaus.
Der französische Unternehmer und Kunstsammler François Pinault posiert in seinem Privatmuseum im Palazzo Grassi in Venedig in der Ausstellung "The world belongs to you" neben einer Skulptur, aufgenommen am 31.5.2011.
Der französische Unternehmer und Kunstsammler François Pinault posiert in seinem Privatmuseum im Palazzo Grassi in Venedig in der Ausstellung "The world belongs to you" neben einer Skulptur.© AFP / Marco Sabadini
Besonders lesenswert machen den schmalen Band die Analogieschlüsse der passionierten Wissenschaftshistorikerin zwischen Kunstgeschichte und Naturwissenschaft. Etwa wenn sie den Aufstieg der "Young British Artists" mit dem Begriff der "Mimikry" erklärt. Oder die Neigung kritisiert, die Kunstgeschichte als eine Art Stammbaum der Arten à la Charles Darwin zu interpretieren. Statt das "Märchen von der Kunst im luftleeren Raum" fortzuschreiben, fordert die Journalistin von ihrer Zunft, eine "Sozialgeschichte der Kunst zu schreiben". Ihre Fallstudien zur (Selbst-) Vermarktung prominenter Künstler wie Georg Baselitz oder Jeff Koons belegen überzeugend ihre alternative Definition von der Kunstgeschichte als "Gemeinschaftswerk mit Arbeitsteilung".
Dokument journalistischer Selbstreflexion
Luzide, kenntnisreich und eloquent seziert Voss die Mechanismen des Kunstbetriebs. Ihr Buch ist aber auch ein bemerkenswertes Dokument journalistischer Selbstreflexion. Die Zeichnungen des Illustrators Philipp Deines verleihen diesem couragierten Plädoyer für eine unabhängige Kunstkritik ein – für kunsthistorische Prosa nicht selbstverständliches – visuelles Surplus. Ob es Voss am Ende gelingt, "Waffengleichheit" mit den Akteuren herzustellen, die ihre Wertsteigerungsstrategien und Spekulationen geschickt verschleiern, wird sich zeigen. Im globalen Kunstbetrieb heute sind mehr Geld und Macht im Spiel als zu Beginn der 70er-Jahre. Voss' Forderung, das "Betriebsgeheimnis des Kunstsystems zu lüften" und "hinter die weiße Wand zu schauen", hätte Michael Asher aber gewiss zugestimmt.

Julia Voss: Hinter weißen Wänden. Behind the White Cube
Zeichnungen von Philipp Deines
Merve-Verlag, Berlin 2015
152 Seiten, 18 Euro

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