Hintersinnige Parabel

Rezensiert von Jörg Plath · 21.09.2005
Die tschechoslowakische Familie Jordan bringt ihre Schäfchen mit legalen, halblegalen und illegalen Mitteln ins Trockene, unter dem Kommunismus ebenso wie jetzt im Kapitalismus.
Die Systeme kommen und gehen, die Jordans aber bleiben. Sie arbeiten wie die Mafia im Staat und außerhalb. Über die Disziplin wacht allerdings kein Pate, sondern eine Tante, Seelchen genannt.

In Jiři Kratochvils neuem Roman "Der traurige Gott" ist Aleš Jordan das schwarze Schaf der Familie. Er will mit ihren Machenschaften nichts zu tun haben und hasst die Tante, seit er als Sechsjähriger mit ansehen musste, wie sie an ihrem Kronleuchter einen Onkel und Kindsmörder liquidieren ließ. Doch er wagt niemals, ihr seine Verachtung ins Gesicht zu sagen.

Auf dem Totenbett ernennt sie ausgerechnet ihn zu ihrem Nachfolger. Aleš vermag sich dem Machtspruch nicht zu entziehen. Erst als er allein die Totenwache übernommen hat, öffnet er den Sargdeckel und entleert den Inhalt seines Darms auf das wehrlose, jedoch auch fühllose Tantchen.

Die Jordans küren daraufhin einen anderen aus ihrer Mitte, und Aleš zieht sich mit seiner Cousine und Ehefrau Lucie in eine randständige Existenz als Bibliothekar zurück. Dann wird das neue Familienoberhaupt verhaftet... Das Geschehen spitzt sich zu.

Viel eher als eine "hintersinnige Parabel über den Totalitarismus im 20. Jahrhundert", wie der Klappentext behauptet, ist das Buch eine keck erzählte Parabel über die Unmöglichkeit eines individuellen Daseins unter jedwedem System. Jiři Kratochvil fällt damit ein überraschendes Urteil über die gerade in der Tschechoslowakei recht aktiven Dissidenten, zu denen etwa Vaclav Havel gehörte.

Aleš, den Abtrünnigen der Gegenwart, lässt der Autor, der in den 70er und 80er Jahren Publikationsverbot hatte, inzwischen aber mit dem Jaroslav-Seifert-Preis, der höchsten literarischen Auszeichnung seines Landes, geehrt wurde, als Eremit zu einem traurigen Gott pilgern, der über den Wolken in einem Bauwagen wohnt. Die Schlusspointe vermischt spielerisch Christentum, postmoderne Erzähltheorie und Vernunftkritik.

Das liest sich über weite Strecken recht göttlich, wirkt aber so differenziert wie ein Scherenschnitt. Weil die Verstrickungen der Familie Jordan mit den wechselnden Herrschenden äußerst vage bleiben, kommen die Wendehälse – anders als die Dissidenten – auch noch gut weg. Erstaunlich.

Jiři Kratochvil: Der traurige Gott
Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová. Ammann Verlag, Zürich 2005.
188 S., 18,90 Euro