Hip-Hop im Konzentrationslager Neuengamme

"Sounds in the Silence" heißt das Projekt, bei dem deutsche und polnische Schüler auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine Performance entwickelt haben. Dokumentarfilmer Jens Huckeriede war überrascht, wie kreativ sich die jungen Leute den Ort angeeignet haben.
Schüler 1: Ich weiß, die Leute haben hier gearbeitet bis zum Tod. Also ich kann es mir nicht genau vorstellen so, und das finde ich – keine Ahnung. Komisch irgendwie.

Schülerin 1: Wir hatten das auch ganz lange in Geschichte, schon fast die ganzen Jahre lang, die ich schon zur Schule ging, habe ich was davon gehört. Und ich habe dann auch irgendwann gedacht: Mann, jetzt reicht es, wir haben schon so viel davon gehört, jetzt lass uns mal in Ruhe, wir haben damit nichts mehr zu tun! Aber ich war hier schon vor zwei, drei Jahren mal und jetzt auch wieder, und das ist auch so fesselnd. Und jetzt merke ich, das hat doch irgendwie ein bisschen was mit uns zu tun, weil das ist in Hamburg, das ist so nah dran.

Schülerin 2: Natürlich denkt man immer auch an die Gefangenen, die hier waren, aber ich muss auch irgendwie denken an die Leute, die hier Aufseher waren, an diese SS-Generäle oder wie man die halt so nennt. Ich muss mir immer vorstellen, wie die die Gefangenen behandelt haben, und kann nicht verstehen, wie die so kalt sein konnten, wie die so herzlos sein konnten, wie die so blind sein konnten, oder wie sie gedacht haben, das, was sie tun, ist das Richtige, oder vielleicht auch nicht, aber es trotzdem getan haben.

Christine Watty: Das waren Ausschnitte aus dem Projekt Sound in the Silence. Schüler aus Hamburg waren das, die in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ihre ersten Eindrücke von diesem Ort und der Wirkung auf sich selbst schilderten. Das tun diese Schüler eigentlich vor einer Kamera – der Dokumentarfilmer Jens Huckeriede hat dieses Projekt mitinitiiert und mit dem Kurator Dan Wolf umgesetzt, und natürlich alles auf Film festgehalten. So auch die Performance, die im Laufe einer gemeinsamen Woche von deutschen und polnischen Schülern dort entstanden ist. Was da in Neuengamme entstanden ist, was ganz genau, das haben wir mit Jens Huckeriede besprochen und ihn zunächst gefragt, was eigentlich die Grundidee hinter dem Projekt "Sound in the Silence" war.

Jens Huckeriede: Also für mich hat das zwei eigentliche Ansätze, die sich in meiner Arbeit auch spiegeln, weil ich mich hauptsächlich mit deutscher Geschichte auseinandersetze: Das ist einmal, dass natürlich Schüler alle in Neuengamme schon gewesen sind, und das ist eine Auseinandersetzung mit dem Schrecken, über zwei, drei Stunden, dann gibt es was zu essen, und dann geht es zurück in die Stadt.

Und mir war es wichtig, dass Schüler eigene Emotion an diesen Orten entwickeln können und sich mit diesen Emotionen auch auseinandersetzen, und zwar in künstlerischer Form, dass Erinnerungskultur nicht nur ein kognitiver Prozess ist, sondern man muss seine eigenen Erfahrungen mal machen, man muss sich an dem Ort auseinandersetzen, und dafür braucht man Zeit.

Watty: In welchen Schritten haben sich die Schüler dann dort vor Ort mit dem Ort und dessen Geschichte auseinandergesetzt?

"Nach dem ersten Tag ging eigentlich gar nichts mehr"
Huckeriede: Also wir sind am ersten Tag angefangen und haben eine Führung über das Gelände bekommen, wo die Schüler dann mitbekommen haben, was dort alles passiert ist, weil das ist natürlich die Grundlage, um die Geschichte dieses Ortes zu verstehen. Und danach war die Stimmung natürlich ziemlich unten, also wir waren alle ziemlich betroffen, und es ging eigentlich gar nichts mehr. Und wir haben versucht, über diesen Stuhlkreis dann zu reden, wie es euch hier geht, wie das denn gewesen ist, und wir haben dann irgendwann einfach ein Warmup gemacht, weil wir nicht wussten, wie wir die Schüler aus dieser Situation wieder rausbringen sollen sonst.

Watty: Was man gut im Film sieht, und was Sie auch mit dem Warmup schon gerade ansprechen, ist ja in der Theorie das Schwierigste, nämlich: Wie nähern sich Schüler diesem Ort? Wird es trotz der Geschichte ihr Ort im Lauf der Woche, oder überwiegt weiterhin die Ehrfurcht, die traurige Stimmung, vielleicht das Grauen? Wie würden Sie beschreiben, was sich da entwickelt hat zwischen den Schülern und ganz konkret den Räumlichkeiten dort, auch den Wiesen, dem gesamten Ort der KZ-Gedenkstätte Neuengamme?

Huckeriede: Wir haben am ersten Tag nach dem Warmup praktisch das Gelände verlassen. Und ich habe nicht gewusst, ob es am nächsten Tag weitergeht, weil die Stimmung, auch nachmittags, auch bei mir noch, so gedrückt war, wo ich nicht dachte, ob das die Schüler überhaupt aushalten. Und in dieser Nacht ist so viel passiert, dass ich natürlich sehr gespannt war, wie die Schüler am nächsten Morgen sich mit uns da auseinandersetzen, wie es ihnen denn am zweiten Tag geht. Und bei allen Bedenken – alle Schüler wollten dort das weitermachen.

Das war irgendwie dann doch ganz wichtig, der erste Tag, was dort passiert ist, und das Spannendste war, dass wir dann mit den Gruppen anfingen zu arbeiten, ziemlich schnell, damit sich die große Gruppe auflöst, und die Schüler haben dann am zweiten Tag nachmittags eine Soundmaschine rausgeholt, haben die draußen vor das Klinkerwerk gestellt und dann klang Hiphop über das Gelände und sie haben Football gespielt.

Und das war für mich eigentlich der Punkt, dass sie nach zwei Tagen dieses Gelände angenommen haben, und dass sie auch den Mut hatten, wo ich auch nicht eingeschritten bin, sondern das gehört eben auch dazu, dass die Schüler einen Freiraum haben, und sie müssen aus diesem Verhaltenskodex, den man eigentlich ja sonst immer an solchen Orten hat, sich befreien. Und das haben sie eigentlich mit dieser Soundmaschine gemacht.

"Es sollte nicht nur Schrecken zurückbleiben"
Watty: Warum ist diese Befreiung eigentlich so wichtig? Weil man könnte natürlich auch sagen, wenn die Schüler sehr, sehr bedrückt von diesem Ort wieder nach Hause fahren, ist es eben auch das, was dort passiert, das ist ja auch das, wie es den meisten Menschen geht, wenn sie KZ-Gedenkstätten besuchen, dass sie mit einer sehr bedrückten Stimmung nach Hause fahren, und das erst mal verarbeiten müssen. Warum halten Sie es für wichtig, das die Schüler zurückkommen, und dass sie auch dort noch mal arbeiten an ihren Gefühlen, an ihrer Haltung?

Huckeriede: Es kann für mich nicht sein, dass nur ein Schrecken zurückbleibt. Dort haben auch Menschen gelebt, und die Schüler heute zu versuchen in so eine Situation zu versetzen, wo nur Schrecken bleibt, das geht so nicht. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, sich damit auseinanderzusetzen, was das mit ihnen heute überhaupt zu tun hat. Es geht nicht nur um den Blick zurück, sondern es geht auch um die Gegenwart. Und deswegen finde ich es wichtig, dass man länger an solchen Orten arbeiten muss, und natürlich ist Kunst da ganz dankbar, dass sie alle ihre eigenen Gefühle unterschiedlich in Szene setzen können.

Watty: Der Filmemacher Jens Huckeriede im "Radiofeuilleton" über das Projekt "Sound in the Silence" – wir haben zu Beginn Stimmen der Schüler gehört, darunter auch eine Schülerin, die sagte, dass das Grauen der Nazizeit oft in der Schule gehört wurde, und dachte eigentlich auch schon mal, es ist jetzt aber genug, ich möchte das eigentlich nicht mehr hören, so der Tenor dieser Aussage. Wie hat sich diese Haltung im Lauf des Projektes verändert?

Huckeriede: Also die Grundüberlegung, die ich hatte, war: Wenn ich so ein kompliziertes Projekt mache, möchte ich das mit amerikanischen Künstlern machen, weil die mit diesem Thema ganz anders umgehen. Weil wir sind natürlich irgendwo auch in Anführungsstrichen traumatisiert, was unsere Geschichte betrifft, und ich arbeite seit zehn Jahren mit einem amerikanischen Rapper in San Francisco zusammen, der in Hamburg seine Wurzeln hat, mit dem ich auch schon einen Film gemacht habe. Und ich wusste, dass die in der Lage sein werden, diese Schüler auch irgendwo zu faszinieren und ganz andere Arbeitsformen zu entwickeln. Und das ist das, was Dan Wolf am Anfang ja auch sagt: Alles, was ihr hier macht, ist richtig. Und das gibt den Schülern natürlich auch eine Kraft, auch da offener zu werden.

Watty: Sie haben mal gesagt, dass es nicht darum ging, den Schülern Druck zu machen, jetzt betonen Sie auch noch mal die Offenheit, dort eben irgendwas erreichen zu wollen oder zu müssen, was war aber das Ergebnis, das die Schüler dann selbst geschaffen haben im Lauf dieser Zeit?

Etwa 100000 Menschen waren in dem Lager gefangen, von denen etwa die Hälfte den Naziterror nicht überlebte.
Etwa 100000 Menschen waren in dem Lager gefangen, von denen etwa die Hälfte den Naziterror nicht überlebte.© picture-alliance/ dpa/dpaweb/ KZ-Gedenkstätte Neuengamme
"Am Ende stand eine Performance von 25 Minuten"
Huckeriede: ich finde, man kann an solchen schrecklichen Orten nur mit einer in Anführungsstrichen absoluten Freiheit arbeiten. Ich habe den Schülern in der Klasse gesagt, es gibt keinen Leistungsdruck, es gibt dort keine Disziplinierung, und wenn wir am Ende wirklich nur ein Standbild schaffen, wo wir 20 Minuten schweigen, ist das auch ein Ergebnis. Dass dann so ein Prozess sich dort in Gang gesetzt hat, dass eine Performance von 25 Minuten entstanden ist, das ist schon unglaublich. Und die Erfahrung, die wir gemacht haben, wir reisen jetzt mit dem Projekt auch in die USA, dass die Schüler, die da drüber reden können, wirklich das verinnerlicht haben. Wenn die jetzt erzählen, hat man das Gefühl, das ist gerade eine Woche her – dabei ist es zwei Jahre her.

Watty: Glauben Sie auch persönlich, dass diese Begegnung allein mit den Orten der Geschichte auch in dieser Form wesentlicher Bestandteil einer solchen historischen Aufarbeitung sein muss, gerade für junge Leute? Oder betrifft es vielleicht auch gerade nicht nur die jungen Leute?

Huckeriede: Es betrifft nicht nur die jungen Leute. Bisher war das wichtige in der Erinnerungskultur, waren die Zeitzeugen. Die Zeitzeugen sind jetzt bald nicht mehr da. Und die Orte sind praktisch die Träger unserer Geschichte. Und was ich das Andere daran finde, ist, dass jeder an einem Ort seine eigene Geschichte ausgraben kann, die er im Verhältnis zu diesem Ort hat. Die Zeitzeugen haben gesagt, wie ihr Leben war, jetzt wird es ein ganz aktiver Prozess von jungen Leuten, die an diesen Orten irgendwas suchen, was mit ihnen zu tun hat, wo sie sich auch wiederfinden und das dann auch darstellen können.

Watty: Wenn Sie die eigentliche Geschichte betonen, was haben Sie wahrgenommen in dieser Gruppe der Schüler, mit denen sie dort waren, die deutschen und die polnischen Schüler, wie unterschiedlich ist da die Geschichtswahrnehmung, die Geschichtsauffassung?

Huckeriede: Die Geschichtswahrnehmung ist natürlich bei den polnischen Schülern nicht so ausgeprägt, weil die fangen überhaupt erst jetzt damit an. Weil wir waren auch ein Jahr später in Polen mit den gleichen Schülern und haben gemerkt, dass wir natürlich in Deutschland uns viel intensiver mit unserer Geschichte auseinandergesetzt haben. Das Problem war auch noch, dass die polnischen Schüler zwei Jahre jünger waren, und trotzdem hat man das in der Arbeit nicht gemerkt.

"Jugendliche gedenken anderes als ihre Eltern"
Watty: Was würden Sie auf mögliche Vorwürfe in Anführungsstrichen antworten, dass dann dort eben auch in dieser KZ-Gedenkstätte Neuengamme Musik erklungen ist, dass die Schüler wie gesagt diesen Raum für sich eingenommen haben? Steht das im Widerspruch zu dem Gedenken, das dort herrschen sollte in erster Linie?

Huckeriede: Das finde ich überhaupt nicht, weil das Gedenken, was wir in den 70er-, 80er-Jahren hatten, ist ein ganz anderes als heute. Und wir – ich sage mal, die Alten –, wir müssen uns verändern. Wenn wir nicht auf die Jugendlichen zugehen, sondern wenn wir unsere eigene Problematik mit unserer Geschichte auf die überstülpen wollen auf Jugendliche, dann interessiert die das nicht mehr, und wir müssen uns öffnen, und wir müssen freier werden, und die Jugendlichen kommen einem dann auch entgegen. Und dass das solche Form gibt, dass Hiphop über ein KZ-Gelände klingt, das gehört dann auch dazu.

Watty: Dieses Projekt war der beste Geschichtsunterricht, sagte hinterher eine Schülerin. Sind Sie genau wegen solcher Aussagen auch an Projekten dieser Art interessiert und daran vor allem fasziniert?

Huckeriede: Ich war fasziniert, weil ich nicht wusste, wir sind angefangen und ohne Konzept, und haben gesehen, was in fünf Tagen dort entstehen kann. Und wir werden jetzt mit einer polnischen Organisation aus Warschau dieses Projekt europaweit ausweiten, weil die polnischen Leute, die uns auf einem deutschen Truppenübungsplatz letztes Jahr begleitet haben, finden das eine super Herangehensweise, Geschichte emotional zu vermitteln, durch eigene Erfahrung und durch Kunst. Und das wird jetzt ausgeweitet auf Länder wie Ungarn, Österreich, Polen und Deutschland, das planen wir im Herbst nächsten Jahres.

Watty: Es geht also weiter – danke schön an den Hamburger Dokumentarfilmer und diesem Fall Projektleiter Jens Huckeriede. "Sound in the Silence" ist der Titel von Projekt und Performance, die mit deutschen und polnischen Schülern in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme entstanden ist.


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