Hippies in der Sowjetunion
Delegierte der Jugendorganisation Komsomol in den 70ern: Aber nicht alle jungen Menschen in der UdSSR folgten dem allumfassenden Anspruch der KP. © imago images / UIG
Entfremdete Jugend
08:53 Minuten
Anders als die Kommunistische Partei es vorgab: Sie liefen barfuß durch die Straßen, tanzten mit Blumen im Haar in Moskau oder Leningrad. Ja, auch in der Sowjetunion lebten Hippies. Was inspirierte sie? Und wie reagierte der Staat auf sie?
Hippies in der Sowjetunion: Ein Staat, der bekannt war für seine straff durchorganisierte Jugendbewegung, die Komsomol. Und dafür, Abweichlerinnen und Abweichlern mit Lagerhaft zu drohen. Das geht so gar nicht zusammen mit dem Klischeebild von Hippies: Roadtrips und Protest gegen den Vietnamkrieg. LSD und Rock and Roll. Darum geht es doch, oder?
"Für mich ist es unmöglich, einen Hippie zu definieren", sagt Irina Gordeeva. "Es gab so viele verschiedene Arten von Hippies in verschiedenen Regionen, in verschiedenen Ländern. Aber ich denke, ich kann die Hippie-Gemeinschaft definieren, die Hippies in der Sowjetunion."
Widerspruch gegen allumfassenden Anspruch der KP
Die russische Historikerin erforscht die unabhängige sowjetische Friedensbewegung im transnationalen Kontext und ist derzeit assoziiert am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
"Für mich ist das eine vorgestellte Gemeinschaft von entfremdeten Jugendlichen. Dieses Gefühl der Entfremdung war ausschlaggebend für die Entstehung dieser Gemeinschaft", erklärt sie.
Der allumfassende Anspruch der Kommunistischen Partei auf Deutungshoheit provoziert den Widerspruch von Jugendlichen: Von den Anforderungen an das Aussehen der Sowjetbürgerinnen und -bürger – in den 1960ern hat die Polizei noch zwangsweise die Köpfe langhaariger junger Männer geschoren – bis zum verordneten Optimismus, sagt Juliane Fürst.
"Wir möchten uns kleiden wie wir wollen"
Sie ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Autorin einer historischen Studie über sowjetische Hippies. Aussteiger*innentum, die Ablehnung des "Establishments", die Betonung des Emotionalen und Esoterischen – all das trifft auf sowjetische genauso zu wie auf westliche Hippies, "aber am allermeisten die Ablehnung des gegenwärtigen Systems, in dem sie leben", erklärt Juliane Fürst.
"Und zwar nicht unbedingt auf politischer Ebene. Obwohl sie, wenn sie diskutiert haben, auch sehr regimekritisch sein konnten. Aber es ging vor allem um die Everyday-Ebene. Also dieses: Wir möchten Musik hören, wir möchten uns kleiden wie wir wollen, wir wollen nicht in langweiligen Komsomol-Vorlesungen sitzen, wir möchten nicht, dass unser ganzes Leben vorbestimmt ist."
In den späten 1960er-Jahren kommen die Vorbilder dafür auch aus dem Westen: Vor allem die Beatles und besonders John Lennon.
Orientierung an Vorbildern aus dem Westen
Zwar werden einige der Songs auch offiziell veröffentlicht, an die Musik kamen aber zunächst vor allem Jugendliche aus privilegierten Familien. Schnell werden die teuren Schwarzmarktplatten auf Band überspielt und unter Gleichgesinnten verbreitet. Vor allem im Westen der Union spielten auch westliche Radiosender eine große Rolle.
"So fingen sie an, Englisch zu lernen, weil sie etwas von den Texten verstehen wollten", erklärt Irina Gordeeva.
"Informationen über die westlichen Hippies und ihre Musik kamen auch aus der offiziellen sowjetischen Presse. Die haben teilweise umfangreiches Material veröffentlicht über die westliche Friedensbewegung, die Hippies und im Allgemeinen über die neuen linken Bewegungen – wegen ihrer Kritik am Kapitalismus und dem westlichen Imperialismus."
Am 1. Juni 1971 wollen auch sowjetische Hippies sich öffentlich politisch zeigen. Vor der US-Botschaft in Moskau wollen sie gegen den Vietnamkrieg demonstrieren - und gegen alle Kriege. Es wird sogar eine Genehmigung angefragt und erteilt.
Gestoppte Vietnamkriegsdemo in Moskau
Doch noch bevor der Zug von einigen Tausend starten kann, greifen staatliche Sicherheitskräfte ein. Wer als führender Kopf bezeichnet wird, kommt ins Lager oder ins Gefängnis, die anderen werden registriert.
"In keinem Staatsarchiv findet sich irgendetwas über dieses Ereignis. Die KGB-Akten aus dieser Zeit sind in Russland immer noch streng geheim. Uns bleiben nur die Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen", erklärt Irina Gordeeva.
"Ich glaube, es war nicht nur eine Falle der Sicherheitskräfte, sondern die Hippies wollten auch ihrer Gesellschaft zeigen: Wir sind ein Teil von euch, wir sind keine Asozialen. Einige der Protagonistinnen und Protagonisten meiner Forschung beschrieben das als Beginn und gleichzeitig Höhepunkt der unabhängigen Friedensbewegung in der UdSSR."
Die Hippies tauchen ab
Doch die Hippies verschwinden nicht, sie tauchen ab. Es entsteht ein einmaliges Untergrundnetzwerk: eine Parallelwelt entfremdeter Menschen im Spätsozialismus. Eingeweihte kennen bald einen Anlaufpunkt nicht nur in ihrer Stadt, sondern in Estland, der Ukraine, Russland, Kasachstan – in jeder Ecke der Sowjetunion.
Die Protagonistinnen und Protagonisten nennen das "Sistema", das System: Genau das gleiche Wort, wie für die ungeliebte Obrigkeit, sagt Juliane Fürst. Ein Mikrokosmos entsteht, "der praktisch parallel zur offiziellen sowjetischen Welt lief. Das hieß nicht, das jeder, der im Sistema war, keine Beziehungspunkte zur offiziellen Welt hatte, aber dass er sobald er wollte, in dieses Sistema abtauchen konnte", erklärt die Historikerin.
"Man ging halt zur Arbeit, und am Nachmittag war man schon unter sich. Oder man hat sich registriert und einen Pass gehabt, aber eigentlich lebte man in dieser Welt, in der es nur Spitznamen und keine genauen autobiografischen Angaben gab. Praktisch auf jeder Ebene des öffentlichen Lebens hatte das Sistema seinen eigenen Gegenpol entwickelt."
Dokumente aus einer Parallelwelt
Das ist durchaus eine fundamentale Entscheidung, denn die Rückkehr ins normale sowjetische Leben ist nur schwer möglich.
Statt öffentlicher Demonstrationen üben die sowjetischen Hippies nun also eine andere Praxis: Sie gehen auf körperliche und psychedelische Reisen, sie gestalten ihre Kleidung und ihre Beziehungen selbst.
Das dokumentieren sie selbst sehr gut, sagt Irina Gordeeva: "Sie waren schön und sie wussten es, also machten sie viele Fotos und sogar Videos. Schwarz-Weiß-Videos zwar, ohne Ton – aber doch sehr interessant."
Weil sie nichts Illegales festhielten, hatten sie bei der Entwicklung der Filme nichts zu befürchten. Die beiden Sistemas hatten sich leidlich arrangiert, sagt Juliane Fürst. Das offizielle ist seine "Störenfriede" los, und die Hippies passen sich ihrer Umgebung an: Statt Jeans aus den USA zu tragen, wird lieber selbst geschneidert. Viele deuten den Mangel um. "Do it yourself" statt Konsum.
Aufsplitterung in zahlreiche Bewegungen
Es etablieren sich zahlreiche Subszenen: Asketinnen und Psychonauten, städtische Untergrundkonzerte und Zirkel um Gurus herum. Bis zum Ende der Sowjetunion bleibt das Sistema bestehen und erweitert sich sogar.
Kurz vor dem Zusammenbruch der UdSSR versucht das offizielle Sistema sogar, Hippies, aber auch Punks und Biker für sich einzunehmen. "Ganz krass ist es dann in der Perestroika", sagt Juliane Fürst.
"Als die Komsomol sich selber anschaut und feststellt: Wir sind versteinert und niemand interessiert sich mehr für unsere Jugendkultur. Dann hat man angefangen, diese Subkulturen einzuladen auf offizielle Versammlungen, um von ihnen zu lernen von, wie man die Jugend noch mal mobilisiert."
Doch es ist zu spät. Die Hippies haben mit dazu beigetragen, dass die Legitimität des Sowjetstaates erodierte. Nach dem Ende der Sowjetunion allerdings geraten viele Hippies in den Strudel der neuen Nationalismen. Einige ihrer Ideen sind dafür sehr anschlussfähig: Die Verbundenheit mit Folklore und Natur etwa lässt die einen zu Patriotinnen und Patrioten werden, die Affinität zu Esoterik führt die anderen sogar zur orthodoxen Kirche. Früher Verbündete gegen den Staatssozialismus, sind viele nun entlang der neuen Staatsgrenzen getrennt.
Was bleibt, sind die Erinnerungen einer Subkultur, ist die Erfahrung, wie schwierig es sein kann, Geschichte zu betrachten von den Rändern der Gesellschaft aus. Und die Erkenntnis, dass Bewegungen, die sich selbst als unpolitisch bezeichnen, das nicht unbedingt sein müssen.