Hirche: Die Bahn wird "kaputt gemacht"

Im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Der niedersächsische Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Walter Hirche, hat davor gewarnt, dass Bahnstrecken auf dem Land nach der geplanten Privatisierung der Bahn stillgelegt werden. Er habe "große Sorge, dass die Bahn in der Fläche kaputt gemacht wird", sagte der FDP-Politiker zu den Vorschlägen des Bundesverkehrsministeriums.
Deutschlandradio Kultur: Herr Hirche, wenn Sie entscheiden können, fahren Sie lieber mit der Bahn oder nehmen Sie dann doch das Auto, weil es schneller geht, weil es bequemer ist?

Walter Hirche: Das hängt schlicht von der Strecke ab. Wenn ich nach Berlin muss, dann nehme ich nur die Bahn von Hannover aus. Aber in einem Flächenland, dezentral, ist man gelegentlich intensiv aufs Auto angewiesen.

Deutschlandradio Kultur: Aber es ist nicht so, wie Ihnen die Opposition im Landtag vorwirft, Sie sind ein Autobahnfreak, ein Autofreak, ein Lkw-Freak?

Hirche: Nein, das ist völlig abwegig. Wir brauchen alle Verkehrsmittel, also auch die Straße mit den Fahrzeugen. Wir brauchen die Schiene und selbstverständlich ist ein Öffentlicher Personennahverkehr in Ballungsräumen etwas ganz Zentrales. Der Konflikt, den wir z.B. aktuell über die Art und Weise, wie die Bahn privatisiert wird, mit dem Bund haben, geht gerade darum, dass in der Fläche der Schienenverkehr erhalten bleiben muss und wir als Land große Sorge haben, dass durch bestimmte Mechanismen die Bahn in der Fläche kaputt gemacht wird.

Deutschlandradio Kultur: Der Bundesverkehrsminister möchte gerne die Bahn teilprivatisieren. Das müsste eigentlich für einen liberalen Politiker wie Sie vom Grundsatz her doch richtig sein.

Hirche: Es ist völlig richtig, dass ich als Liberaler dafür bin, dass der Betrieb auch im Infrastrukturbereich, soweit es geht, privatisiert wird. Etwas anderes sind die Netze als solche, weil über die Netze auch die Entscheidung stattfindet, ob Wettbewerb auf der Schiene in diesem Fall fair ist, ob er nach Regeln stattfindet, die die Gleichheit der Wettbewerber gewährleisten. Das ist also etwas anderes als der Betrieb. Von daher muss man die Dinge auseinanderhalten. Genau, wie ich im Bereich etwa der Sicherheit gegen jede Privatisierung der Polizei oder von Sicherheitsorganen bin, die die öffentliche Sicherheit gewährleisten, so – meine ich – gibt es durchaus einen Grundbestand, bei dem man mindestens gewährleisten muss, dass bei der Nutzung des Straßennetzes oder Schienennetzes absolute Wettbewerbsneutralität gegeben ist. Die sehen wir verletzt.

Deutschlandradio Kultur: Wo sehen Sie denn die Widerstände? Beim Bundesministerium in Berlin?

Hirche: Ja, der Bund will die Bahn zu einem möglichst hohen Erlös an die Börse bringen. Je mehr ich dann in ein solches Unternehmen reinpacke – auch an Werten im Zusammenhang mit Immobilien, mit dem Netz –, einen desto höheren Preis kann ich erzielen. Ich muss nach einer Privatisierung nur genau gucken, welche Wirkungen sie hat. Ich bin ja deswegen z.B. für private Wirtschaft, weil sie sich sehr viel stärker auf bestimmte Kernkompetenzen konzentriert. Meine Befürchtung bei dem öffentlichen Gut Bahn ist genau das, dass diese Logik dazu führt, dass sich die Deutsche Bahn künftig auf die Hauptstrecken konzentriert und dort, wo weniger Personen zusteigen, wo das Kosten-Nutzen-Verhältnis geringer ist, wie in der Fläche, diese abschneidet. Dieses Abschneiden bedeutet dann, dass die Länder wahrscheinlich die entsprechenden Lasten übernehmen müssen.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei einem idealen FDP-Modell. Würde das bedeuten, dass die Netz AG ein selbständiges Unternehmen wäre, wie Sie gesagt haben, möglicherweise in staatlicher Hand?

Hirche: Nach meiner Vorstellung muss die Hoheit, der Schiedsrichter über die Netze im staatlichen Bereich sein. Marktwirtschaft, wie wir sie im Grunde seit Ludwig Erhard diskutieren, funktioniert nur, indem z.B. seinerzeit ein Kartellrecht geschaffen worden ist, indem über das Bundeskartellamt Marktmissbrauch nachgewiesen und abgestellt werden kann. Ich hätte mir auch vorstellen können, dass man z.B. – die Entscheidung ist leider vor Jahren anders gefallen – beim Bundeskartellamt eine neue Abteilung "Netze" aufgebaut hätte, in der man über alle Probleme, die ja zum Teil ähnlich sind, was Strom, Gas und Bahn betrifft, eine entsprechende Kontrollorganisation gehabt hätte. Das ist anders entschieden worden. Die Bundesnetzagentur ist da. Die ist eine staatliche Organisation und die soll die Neutralität gewährleisten, weil ich denke, dass ein privates Monopol natürlicherweise dazu tendiert, gelegentlich nicht nur übers Ziel hinauszuschießen, sondern Konditionen aufzustellen, die Wettbewerber – zumindest indirekt – diskriminiert.

Deutschlandradio Kultur: Nun komme ich mit einem typisch liberalen Argument: Woher wissen Sie, dass der staatliche Netzbetreiber, also nicht die Bundesagentur, sondern der Netzmanager als Staatsunternehmen, besser ist als ein privater, in diesem Fall wäre es Herr Mehdorn, Manager, der im Auftrag des Staates dort die Netze verwaltet?

Hirche: Kein Mensch kann vorab sagen, dass eine konkrete Person besser oder schlechter ist, im privaten oder staatlichen Bereich. Aber in unserer demokratischen Struktur, die wir als Gesellschaft haben, ist es so, dass der Staat in gewissen Kernbereichen entweder – wie mit der inneren Sicherheit durch die Polizei – Sicherheit gewährleistet, oder aber dass der Staat – wie durch die Justiz – die gleichen Regeln in der Gesellschaft gewährleistet. So sehe ich das auch mit der Netzagentur.

Deutschlandradio Kultur: Sie könnten doch staatlicherseits die Auflagen machen, auch wenn es ein privater Anbieter wäre.

Hirche: Ja, dann müsste ich ja wieder jemanden haben, der diese private Agentur staatlicherseits kontrolliert. Sie kommen aus der Auflösung dieses Zirkels überhaupt nicht heraus. Es ist natürlich – sowohl beim Staat wie bei Privaten – immer ein Grundsatz mit zu beachten: Wie stelle ich Diskriminierungsfreiheit her? Da muss ich eine absolute Transparenz haben. Ich muss vorher aufgestellte Regeln haben. Und darüber z.B. entscheidet sich dann sehr viel, ob die vorgesehene Netzagentur mit ihren Kompetenzen im Hinblick auf die Bahn künftig überhaupt etwas Entscheidendes bewegen oder nicht bewegen kann.

Mein Problem ist bei den Vorschlägen, dass wir ein bisschen zu viel Vermischung von Schiedsrichterrolle, die ich beim Staat sehe, und Spielerrolle, die ich bei den Privaten sehe, haben. Das geht auf dem Fußballfeld auch nicht, dass der Schiedsrichter bei einer Mannschaft mitspielt und dann in dem einen Fall "Hand" pfeift, wenn es die anderen betrifft, und beim eigenen Betrieb großzügig drüber hinwegsieht.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei diesem sportlichen Bild. Es geht beim Fußball darum, dass man am Schluss das Spiel gewinnt. Was soll mit dieser ganzen Reform, mit dieser Teilprivatisierung Ihrer Meinung nach erreicht werden? Mehr Güter auf die Bahn, mehr Verkehrssicherheit? Was ist das Ziel?

Hirche: Es muss ein gemeinsames Ziel für alle Beteiligten geben. Das ist die Leistungssteigerung der Bahn. Was wir feststellen mit dem ersten Schritt 1993, mit der Regionalisierung, ist ja, dass die Bahn durchaus seitdem eine deutliche Leistungssteigerung vollzogen hat, zum Teil dadurch, dass wir in den Regionalnetzen Ausschreibungen gemacht haben. Plötzlich sind Linien attraktiv geworden, die vorher die Bahn einstellen wollte. Wir haben solche Beispiele etwa in Niedersachsen, aber auch in anderen Bundesländern. Und was wir jetzt erreichen müssen, ist natürlich, dass dieser Gedanke, mehr Wettbewerb und Leistungsfähigkeit, auch durchgehalten wird, aber nicht dadurch, dass Zweiklassensysteme in diesem ganzen Bahnnetz hergestellt werden, nach dem Motto: Wir haben einen Wettbewerber 1. Klasse, die alte Monopolbahn, und wir haben dann viele Wettbewerber 2. Klasse. Da kann nur durch eine Instanz vorgebeugt werden, die das neutral betrachtet.

Durch verschiedene Mechanismen bei dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, wer bestimmt über die Trassenpreise und andere Fragen, ist es so, dass die Bahn dabei einen Wettbewerbsvorteil zu Lasten der anderen erhält. Das ließe sich meines Erachtens bei gutem Willen auf allen Seiten auch bereinigen und gemeinsame Lösung finden. Am Ende läuft es immer wieder auf die Finanzen hinaus. Denn wenn ich hier in Zukunft mehr Neutralität herstelle, vermindere ich den möglichen Wert der Bahn und den möglichen Entscheidungseinfluss dieses privaten Wettbewerbs in dem Gesamtgeschäft. Das bedeutet, der Bund erzielt weniger Erlöse über die Privatisierung. Das ist eigentlich jetzt die Frage, die man sich immer stellen muss, wenn man öffentliche Infrastruktur privatisieren will, was der Bund zu 49 Prozent tun will: Welchen Preis erziele ich dafür? Zu wessen Lasten mache ich das? Da sehe ich Schieflagen.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch mal über die Trassenpreise sprechen. Darüber wird sehr viel gestritten. Wenn der Staat im Netz drin bliebe, könnte er beispielsweise die Trassenpreise senken, um mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen. Er müsste das hinterher aber auch irgendwie bezahlen. Ist das für Sie eine Politik?

Hirche: Also, es ist für mich keine Politik, wenn man zu der alten Bahn zurückkehrt, die im Grunde ohne Rücksicht auf Erträge die Dinge gehandhabt hat. Wir haben zig Milliarden aufgehäuft. Insofern ist diese Entscheidung, die Anfang der 90er Jahre getroffen worden ist, mehr Wettbewerb in den Bahnsektor reinzubringen – wohlgemerkt, im Betrieb – eine richtige Entscheidung. Und alles, was den Betrieb betrifft, halte ich auch wettbewerblich für richtig. Wobei sich nicht nur die Wettbewerber gut aufgestellt haben, sondern auch die Deutsche Bahn erheblich verbessert hat. Das ist auch durchaus ein persönliches Verdienst von Herrn Mehdorn und den Leuten im Bahnvorstand, aber alles im Leben hat eine bestimmte Grenze. Es ist Aufgabe von Politik, nicht bestimmte Betriebsmonopole zu erhalten, sondern für mehr Effizienz zu sorgen.

Was ist denn der Sinn des Ganzen? Wir wollen und müssen mehr Güter auf die Bahn bringen. Das bedeutet, die Infrastruktur muss das leisten. Wir wollen mehr Personen auf die Bahn bringen und nicht weniger. Wenn Bahninfrastruktur wirtschaftlich nicht mehr bedient wird, das heißt, da werden Strecken nicht abgebaut, aber in einem riesigen Umfang stillgelegt, dann ist es besser, dass über Steuern ein Anteil zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur gezahlt wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie streiten oder argumentieren jetzt so, wie es auch der Bahnchef Hartmut Mehdorn tun würde. In Wirklichkeit werfen Sie ihm aber vor, es bestünde die Gefahr, die Bahn treibt die Trassenpreise nach oben, gerade im Personennahverkehr auf Nebenstrecken, wo Sie im Geschäft sind, weil Sie mit öffentlichen Geldern das Fahren der Arbeitnehmer, aber auch der Schüler fördern. Also ist die Frage: Soll man auf den Nebenstrecken zu einem Euro pro Kilometer fahren oder wie auch immer?

Hirche: Nein, das wird auch in Zukunft, keine Absolutgarantie für einzelne Strecken geben. Manchmal ist es eben so, da müssen Zubringerdienst auch per Bus organisiert werden. Das kann auch noch im öffentlichen Auftrag gemacht, aber durch Private betrieben werden. Nein, es gibt im Einzelfall immer die Notwendigkeit nachzuweisen, ist etwas ökonomisch noch zu rechtfertigen oder nicht. Aber was ich hier sehe, ist eine gigantische Lastenverschiebung vom Bund auf die Länder, in einer Situation, in der auch die Bahn manchmal so ein bisschen von Bund und Ländern wie in einen Schraubstock gesperrt wird. Also, ich sehe zwei große Blöcke in diesem Zusammenhang, die man diskutieren muss.

Das eine ist alles, was ums Thema Finanzen und Verschiebung der Finanzlasten vom Bund auf die Länder geht. Da ist es so, dass der Bund bis jetzt gegenüber der Bahn und damit als Information für die Länder nur sagt: Ihr kriegt bis zu 2,5 Milliarden, während das eine bisher eine fixe Zahl von 2,5 war. Außerdem ist bei den Regionalisierungsmitteln, mit denen der Bund den Ländern ermöglicht, in der Fläche bestimmte Bahnverkehre aufrecht zu erhalten, eine Abschmelzung nach wie vor im Gespräch. Und drittens wird eben durch den Vorgang der Privatisierung und die Logik hier, die Bahn dazu gedrängt, sich noch stärker auf Hauptstrecken zu konzentrieren, wo sie das Geld verdient, und den Nebenbereich einzuschränken. Das andere ist alles, was mit Wettbewerb und Fairness in diesem Zusammenhang in Zukunft zu tun hat.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie diese Auseinandersetzung mit dem Bund nicht ständig haben wollen, warum fangen Sie nicht mit der Forderung an: Wir wollen das regionale Schienennetz in unserer Verantwortung haben, was die Finanzierung angeht, die Verwaltung, das Management und die Privatisierung möglicherweise am Ende.

Hirche: Ich denke, erst mal ist Eisenbahn eigentlich eine europäische Veranstaltung. Wir müssen ja grenzüberschreitende Verkehre organisieren. Und es hat eine gewisse Logik, dass das Grundgesetz sagt, "das ist eine Aufgabe des Bundes". Was wir aber in diesem Bereich haben wollen, ist in der Tat mehr Verantwortung für regionale Strecken und regionale Netze. Es gibt nur bei der Bahn einen großen Umfang von Schnittstellen. Wenn ich hier an Hauptbahnhöfe denke, wo Sie Nahverkehre und Fernverkehre zusammenbinden müssen, Güterverkehre auch noch, ist es natürlich sinnvoll, wenn ein Schiedsrichter da ist, der alle Dinge beurteilen kann und zusammenbindet.

Mein Einwurf ist vor allem, dass wir die Neutralität in diesem Betrieb haben müssen. Und wir haben das ja heute schon ein bisschen in die Richtung, indem bestimmte Streckenabschnitte oder Netzteile öffentlich ausgeschrieben werden. Da kann sich die Bahn bewerben. Da können sich auch Private bewerben. Mal gewinnt der eine, mal der andere. Aber wir haben festgestellt, dass dadurch z.B. neues Wagenmaterial eingesetzt worden ist, dass die Bahnhöfe renoviert werden. Das hat erst bewirkt, neben den festen und sicheren Fahrzeiten, dass die Menschen wieder mehr Bahn fahren als vorher.

Deutschlandradio Kultur: Die Länder fordern mehr Mitsprache bei den Investitionen der Bahn, aber auch, wie sie den Regionalverkehr organisiert. Ich wage mal die These: Das ist eine ziemlich hohle Forderung, denn im Grunde haben die Länder kein Konzept. Sie haben keinen regionalen Netzmanager, der sagt, ich vermarkte bis zur letzten Nebenstrecke diese Strecke. Und wenn es die Bahn nicht macht, macht es ein privater Betreiber.
Haben Sie wirklich das Potenzial zu sagen, Bahn, wenn du nicht willst, es macht bei uns ein anderer?

Hirche: Das denke ich schon. Wir haben in Niedersachsen in den 90er Jahren die Landesnahverkehrsgesellschaft gegründet. Und wir haben, wenn Sie so wollen, bei uns, in diesem zweitgrößten Flächenland, drei regionale Gesellschaften, die hier zuständig sind – eine im Großraum Hannover, die andere im Braunschweiger Beritt, als den beiden größten Städten, und das übrige Land in einer Gesellschaft. Dort wird die Frage zusammengeführt: Wie sieht das Netz aus? Welche Qualität hat das Netz? Wie sind die einzelnen Strecken? Von dort aus wird heute auch konkret mit der Deutschen Bahn verhandelt, wenn es darum geht, dass in einem Teil des Landes eine Vereinbarung über Qualitätssicherung abgeschlossen wird.

Das ersetzt nicht, dass über die Verfügung über das Netz die Schiedsrichterrolle über das Netzt großräumig geregelt werden muss. Ich möchte auch nicht, dass wir mit einer solchen Neuordnung zurückfallen in den Postkutschenföderalismus.

Deutschlandradio Kultur: Wechseln wir das Thema, bleiben wir trotzdem bei den Netzen, denn es geht um Gas und Strom. Die EU-Kommission will den Energiekonzernen die Netze nehmen. Halten Sie so was in dem Bereich für richtig?

Hirche: Darüber kann man theoretisch lange diskutieren. Das ist auch theoretisch ein durchaus vertretbarer Ansatz. Praktisch ist es nicht durchführbar, weil dann die öffentliche Hand, wenn Sie das tun würde, ja den privaten Betreibern dieses Eigentum nach dem Grundgesetz ersetzen müsste – und das in Größenordnungen, die nicht darstellbar sind. Ich halte es auch dann für nicht notwendig, wenn wir die Netzagentur mit entsprechenden zusätzlichen Kompetenzen ausstatten.

Deutschlandradio Kultur: Beim Bahnkonzern, einem staatlichen Konzern, würden Sie am liebsten aufspalten in Netze und Fahrbetrieb. Bei den großen Energiekonzernen, die mal in öffentlicher Hand waren, aber jetzt privatisiert sind, sagen Sie, da können wir die Uhr nicht zurückdrehen, die dürfen wir nicht als Staat aufspalten.

Hirche: Nein, das habe ich nicht gesagt. Zweckmäßig wäre es vielleicht, aber nicht machbar an der Stelle, weil ich natürlich in der Politik auch von der Situation ausgehen muss, die ich vorfinde. Ich halte diese Diskussion, die wir im Strom- und Gasbereich haben, geradezu für ein Warnzeichen dafür, bei der Bahn nicht die gleiche Situation eintreten zu lassen. Ich kann nur nicht jetzt als öffentliche Hand sagen, ich drehe das alles zurück, was sich über Jahrzehnte im Strom- und Gasbereich entwickelt hat. Sondern ich will das, was ich als Wettbewerbsneutralität, Gleichheit der Wettbewerber auch im Bahnbereich künftig gewährleistet sehen will, auch im Strom- und Gasbereich angewendet sehen. Von daher, glaube ich, ist die Lage zwar unterschiedlich, aber das Ziel das gleiche. Der Staat muss in eine stärkere Rolle als Schiedsrichter hineinkommen, indem er das entweder selber zuteilt oder die Kriterien für die Zuteilung im Einzelnen festlegt. Da ist im Leben leider öfter so, dass man die gleiche Zielvorstellung hat, sich aber trotzdem in der konkreten Situation anders verhalten muss.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben vor ungefähr zehn Jahren eine Liberalisierung auf dem Strom- und Gasmarkt erlebt. Die Preise sind kurzfristig gefallen. Wo wir mittlerweile stehen, ist es so, dass wir eigentlich wieder Monopole haben oder vier große Anbieter. Die Preise sind wieder nach oben geschnellt. Also, Liberalisierung hat eigentlich am Schluss gar nicht so viel gebracht.

Hirche: Ich glaube, beim Preis ist es zunächst einmal so, dass wir in Deutschland ja nachgewiesenermaßen inzwischen einen sehr hohen Staatsanteil auf den Strom- und Gaskosten haben, die wir vor zehn Jahren in diesem Umfang nicht hatten. Das war gewollt, aber man kann die Preissteigerung in diesem Umfang jetzt nicht den EVU anlasten.

Etwas anderes ist die Frage des Wettbewerbs. Hier ist in Deutschland möglicherweise in der Vergangenheit nicht klar genug und scharf genug im Hinblick auf die Regeln, die da aufzustellen, durchgegriffen worden. Wir diskutieren ja erst seit ca. anderthalb Jahren darüber, dass das Instrument der Anreizregulierung eingeführt werden soll, das heißt, so eine Leistungsmarke, dass die Besten bestimmen, wie stark die Rationalisierung bei den Schlechteren sein soll, und dass damit am Ende auch für den Kunden wieder ein echter Wettbewerb erreicht wird. Zweitens müssen die Möglichkeiten des Wechsels zwischen den Anbietern deutlich verbessert werden.

Deutschlandradio Kultur: Also, das kann man heute im Internet machen. Wer in Berlin wechseln möchte, kann sich sofort bei 40 Anbietern in Berlin entscheiden. Das Problem ist nur, die sind alle gleich teuer. Keiner fällt aus dieser Preisgestaltung richtig raus.

Hirche: Na gut. Sie haben natürlich, wenn Sie Brot kaufen, auch Differenzierung, aber am Ende landen Sie in einem relativ engen Rahmen. Durch die Anreizregulierung wird das aber so sein, dass jemand in Berlin nicht nur zwischen den Berliner Anbietern entscheidet, sondern auch die günstigeren Angebote von Anbietern anderswo mit herbeiziehen wird. Wir haben z.B. erfreulicherweise im Strombereich in Niedersachsen ein relativ niedriges Angebotsniveau, verglichen mit allen anderen Regionen in Deutschland. Wir meinen, dass das ein Stück mit der Aufsicht in der Vergangenheit zu tun gehabt hat, aber auch natürlich mit Effizienzbewusstsein der Betriebe. Über die Anreizregulierung kriegen wir den Druck auf größere Effizienz. Am Ende werden wir auch die Diskussion haben, ob es richtig ist, dass der Staat das, was korrekterweise gemacht werden soll, also mehr regenerative Energien, über die Strompreise oder Strom- und Gaspreise erreichen darf oder nicht mehr mit Einsatz von Steuermitteln.

Deutschlandradio Kultur: Das klingt so, als würden Sie gerne die Stromleitungen und die Gasnetze in der Hand der Unternehmen lassen und nach dem Preisgünstigsten, den Sie zum Trendsetter machen, regeln Sie dann die Preisneutralität vielleicht auch der Netze.
Es gibt das andere Modell: eine nationale Netzgesellschaft in Händen der Stromkonzerne oder gar eine regional europäische Netzgesellschaft aus Deutschland, Frankreich, Benelux.

Hirche: Aus meiner Sicht wäre das durchaus interessant, auf nationaler Ebene so etwas zu regeln, denn Strom ist ja kein Gut, was nur regional verfügbar ist. Meine Langfristvorstellung wäre durchaus, dass wir auf europäischer Ebene Regeln aufstellen und diese Regeln dann in den einzelnen Staaten der EU angewendet werden. Die EU ist sicher nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft, aber sie ist auch Wirtschaftsgemeinschaft. Da sollte man versuchen, in einem solchen Wirtschaftsraum die Regeln einander anzugleichen.

Deutschlandradio Kultur: Und auch erreichen, dass Anbieter außerhalb Deutschlands in Europa Strom anbieten, dass wir europaweit diesen Wettbewerb haben?

Hirche: Das ist ja auch das Ziel der EU-Kommission, allerdings immer wieder blockiert gerade von den großen Mitgliedsstaaten.

Deutschlandradio Kultur: Dann ist es doch richtig, wenn die Stromkonzerne sagen: Lasst diese eigentumsrechtlichen Fragen ruhen – Trennung von Netz und Erzeugung und Handel. Lasst uns lieber in europäischen Regionen zusammenarbeiten. Wir brauchen den Stromaustausch zwischen Deutschland und Frankreich. Der bringt den Wettbewerb.

Hirche: Den brauchen wir auch. Das ist völlig klar. Da gibt es auch Wettbewerb. Die Entwicklung dort hin wird auch so sein. Aber man muss deswegen die eigentumsrechtliche Situation bei Bahn- und Stromkonzernen einfach sehen in der Realität. Das ist so. Wenn ich mich darauf jetzt in erster Linie konzentriere das zu ändern, dann scheitere ich möglicherweise an der viel wichtigeren Frage der Organisation eines fairen Wettbewerbs über eine entsprechende Wettbewerbsbehörde. Da lässt sich auch staatlicher Einfluss auf die Regeln, nach denen er durchgeleitet wird, viel besser organisieren.

Deutschlandradio Kultur: Würden Sie das auch schön finden, wenn beispielsweise russische Anbieter, die Gazprom käme und sagt, wir haben viel Geld, wir möchten gern ein Energienetz in Europa kaufen?

Hirche: Wir werden am Ende auch internationale Beteiligungen von außerhalb der Grenzen haben. In dem Moment, wo andere Staaten und nicht private Unternehmen – wir haben in Russland eine gewisse Vermischung zwischen diesen Aspekten, wenn ich das zurückhaltend sagen darf – da würde ich schon sagen, dass man im Zuge von Zeitplänen und Beobachtungen sagt: Wir können hier keinen Ausverkauf in dem Sinne bei Grundversorgungsstrukturen zulassen. Aber ich denke, eine absolute Abschottung ist auch nicht der richtige Weg. Man wird hier eine Entwicklung sehen. Diese Entwicklung muss vermittelbar sein. Sie muss vor allen Dingen für die Kunden eine positive Tendenz bringen. Wenn ausländische Kapital dazu führt, was ja auch nicht auszuschließen ist, dass am Ende eine noch stärkere Monopolisierung des heimischen Marktes steht, dann hätten wir Teufel mit Belzebub ausgetrieben.

Deutschlandradio Kultur: Diese Fragen des Wettbewerbs, z.B. Netze von Strom, Gas und Bahn zu neutralisieren und zu trennen von dem eigentlichen Erzeugungs- oder Leistungsbetrieb, sind Fragen, die in Brüssel und in Berlin entschieden werden. Wir sind jetzt in Hannover bei einem Landeswirtschaftsminister. Sind Sie künftig nur noch Zuschauer in der Wettbewerbspolitik?

Hirche: Wir sind in den Gremien vertreten, die – jedenfalls bei der Bundesnetzagentur – vorhanden sind. Ich will den Einfluss damit nicht überinterpretieren. Aber wenn Strom und Gas nationalem Regelungsbedarf unterliegen, dann ist es ganz automatisch, dass bestimmte Kompetenzen abschließend in Berlin wahrgenommen werden oder in Brüssel. Ich denke, wir haben hier eine Situation, bezogen auf Strom und Gas, wie wir sie im 19. Jahrhundert bei Brot und Salz und Milch hatten. Das heißt, damals hat man den Versuch gemacht, über Zoll-Union und größere Wirtschaftsräume auch Vorteile von Handel über Grenzen hinaus wahrzunehmen. Ich denke, das wird im europäischen Rahmen auch in Bezug auf Strom und Gas in Zukunft der Fall sein.

Deutschlandradio Kultur: Global denken, lokal handeln. Herr Hirche, wir danken für das Gespräch.

Hirche: Gerne.