Historie

Die großen Linien

Die Zeit nach dem Dritten Reich nimmt in Herberts Buch den größten Raum ein.
Die Zeit nach dem Dritten Reich nimmt in Herberts Buch den größten Raum ein. © picture alliance / dpa / apa Brandstätter-Verlag
Von Rolf Schneider |
Es ist ein gewaltiges Werk: Auf fast 1500 Seiten erzählt Ulrich Herbert die Deutsche Geschichte seit 1870. Er tut das souverän und anschaulich - ein hervorragendes Buch.
Ende vergangenen Jahres lebte eine längst beigelegte Debatte wieder auf. Es ging um die Haupt- oder Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Auslöser war das Buch des australobritischen Historikers Christopher Clark "Die Schlafwandler", das die Schuld gleichmäßig allen Beteiligten zuschob. Zumal rechtskonservative Kreise hierzulande begriffen dies als nationale Exkulpation, worauf die Linksliberalen in Geschichtsinstituten und Feuilletons mobil machten.
Bei den Debatten fiel auch der Name Ulrich Herbert. Dessen Urteil ist inzwischen nachlesbar.
" ...während die deutsche Führung bis dahin der Linie gefolgt war, die Krise nur bis an die Schwelle eines Krieges zu führen und für sich zu nutzen, den Krieg selbst aber möglichst zu vermeiden, ging es ihr von nun an nur noch darum, den offenbar nicht mehr aufzuhaltenden Kriegsausbruch als Ergebnis der Politik Russlands darzustellen, um so als Angegriffener dazustehen."
Dies schließt eher an die Interpretation des Hamburger Historikers Fritz Fischers an, dessen Buch von 1961 die Debatte einst los trat.
Unser Zitat stammt aus "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert", opus magnum Ulrich Herberts und ein Buch von mehr als 1400 Seiten. Der Verfasser, Jahrgang 1951, arbeitet im badischen Freiburg, bekannt wurde er durch Untersuchungen zum Hitler-Faschismus. Naturgemäß findet dies auch Eingang in seine letzte Arbeit.
Herbert entfaltet zwei "Argumentationsbögen"
Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Mustere ich meinen privaten Bücherschrank, finde ich vergleichbare Gesamtüberblicke, von Autoren wie Gerhard Ritter, Hagen Schulze, Heinrich August Winkler und anderen. Es gibt keinen Abschnitt unserer Geschichte, der eingehender dargestellt worden wäre.
Wer sich heute diesem Gegenstand zuwendet, muss vorangegangene Arbeiten kennen und sich zu deren Ergebnissen verhalten. Erfahrungen allerjüngster Zeitgeschichte wird er außerdem einfließen lassen, was in unserem Falle bedeutet: das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit und Entscheidungen des wiedervereinigten Deutschland nach innen wie nach außen.
Lesart-Cover: Ulrich Herbert "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert"
Cover: Ulrich Herbert "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert"© C.H. Beck Verlag
"Nie zuvor wurde dem Autor die Bedeutung der Rede vom Konstruktionscharakter der Geschichte so deutlich wie hier. Und doch wurde er durch die Quellen und die aus ihnen sprechenden Zeitgenossen immer wieder darauf geworfen, dass der Ethos des Historikers darin besteht, der daraus entstehenden Verantwortung gerecht zu werden."
So die Einleitung. Herbert verordnet sich zwei methodische Maßnahmen, denen er den etwas gewöhnungsbedürften Namen "Argumentationsbögen" gibt. Es geht, simpel gesagt, zunächst um singulär deutsche, sodann um transnationale Ereignisse und beider Interpretation.
Untergliedert ist der Zeitraum in fünf Abschnitte, markiert durch die Jahre 1918, 1933, 1945, 1973 und 1990. Das Jahr 1973 steht für die erste Energiekrise und den Grundlagenvertrag zwischen den beiden Deutschländern. Als symbolisches Datum in der gesamten Zeitraummitte wird 1942 genannt – nicht wegen Stalingrad, sondern wegen der Judenvernichtung.
Rückgriffe auf die Kulturgeschichte
Der Buchtitel gibt als Einstiegsdatum den Jahrhundertbeginn vor. Natürlich lässt sich das kaiserliche Deutschland um 1900 ohne seine Vorgeschichte nicht begreifen. Das eigentliche Einstiegsdatum lautet daher 1870, mit dem deutsch-französischen Krieg und der Reichsgründung.
Nicht nur hier operiert Herbert gerne mit soziologischem Material, auch Rückgriffe auf die Kulturgeschichte, in der er sich gut auskennt, finden häufig statt, dankenswerterweise. Das Geschehen ab 1945 beansprucht den deutlich größeren Teil des Buchs.
"Dass am Ende der Nachkriegsjahre zwei deutsche Staaten entstanden, war keineswegs eine unvermeidliche Entwicklung. Für die Westmächte war die Teilung zunächst ein vorübergehender Ausweg aus der Wirtschaftsmisere der Nachkriegszeit. Für die Sowjetunion bedeutete sie das vorläufige Ende ihrer Hoffnungen, Zugriff auf die wirtschaftlichen Ressourcen der Westzonen zu erhalten."
So kann man es sehen, man muss es nicht. Die gesamtdeutschen Pläne Stalins und der SED verfolgten kein bloß wirtschaftliches Interesse, vermutlich ging es, und zwar von Beginn an, um ein kommunistisches Gesamtdeutschland. Übergroße Nachsicht Herberts gegenüber dem politischen Osten bedeutet das nicht. Die Ereignisse werden von ihm objektiv geschildert, was angesichts ihres Verlaufs bedeutet: gnadenlos.
Alles steuerte auf einen Kollaps des kommunistischen Europa zu. Die DDR war davon mitbetroffen, sofern sie die Vorgänge nicht anstieß. Im Übergangsjahr 1990 mit dem wachsenden ostdeutschen Bestreben nach Wiedervereinigung sieht Herbert, hübsch formuliert, einen Wechsel des aufständischen demos zum ethnos.
Der bürgerbewegte Runde Tisch war "... vor allem ein Phänomen des Übergangs von alter zu neuer Ordnung. Und da sich die Dinge in diesen Tagen nahezu rasend schnell veränderten, wurde er schon bald als anachronistisch empfunden."
Dass die deutsche Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts so etwas wie ein unverdienter geschichtlicher Glücksfall war, äußert Herbert nicht als erster.
Über den Jahrtausendwechsel hinaus
"... dass es gelungen ist, stabile demokratische Institutionen zu schaffen, den Kapitalismus nach 1945 zu einer sozialen Marktwirtschaft umzuformen, den Ausgleich mit den Ländern des Ostens zu erreichen, Lebensweisen und Umgangsformen zu liberalisieren und die Kultur der Moderne anzunehmen, gehört zu jenen Erfahrungen, die eine optimistische Zukunftserwartung begründet haben ..."
Ulrich Herbert schließt nicht mit dem Jahrtausendwechsel. Er erzählt weiter: vom Attentat auf das World Trade Center und den Folgen, von Afghanistan und von der Finanzkrise, von Rot-Grüner und Großer Koalition in Berlin.
Er erzählt, hier wie sonst. Sein Buch will vor allem lesbar sein und ist das auch. Es zeichnet die großen Linien deutscher und internationaler Politik nach, souverän, anschaulich, ohne akademische Schwerfälligkeit, auch ohne Erwähnung innerdisziplinärer Kontroversen. Insgesamt gilt: Wer sich über die deutschen Verhältnisse zwischen 1871 und 2010 informieren will, findet derzeit kein besseres Buch.

Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert
C. H. Beck Verlag München, Mai 2014
1451 Seiten, 39,95 Euro