Historie satt
Am 9. August 1945 steht Hiroko Tanaka am Fenster ihres Hauses in Nagasaki. Sie trägt einen Seidenkimono, in dessen Rückseite drei fliegende Kraniche eingewebt sind. Kurz zuvor hat sie sich von ihrem deutschen Geliebten Konrad Weiss verabschiedet, der in die Stadt zurückgelaufen ist.
Der Krieg ist fast vorbei; eine Bombe wie die drei Tage zuvor auf Hiroshima abgeworfene erwartet niemand mehr. Doch dann "wird die Welt auf einmal weiß", und auch im Buch bleiben zwei Seiten leer. Die zweite Atombombe ist gefallen. Konrad stirbt auf dem Weg in die Stadt, und Hiroko brennen sich die Seidenkraniche in den Rücken ein. Unter ihrem Fenster kriecht ein schuppiges Reptil auf das Haus zu. Erst später begreift sie, dass es ihr Vater ist.
Mit Kamila Shamsies neuem Roman "Verglühte Schatten" hat die literarische Globalisierung eine neue Dimension erreicht: Die Geschichte beginnt 1945 in Japan, geht im indischen Delhi weiter, wechselt dann nach Pakistan und Afghanistan, um in den USA und schließlich 2002 in Guantánamo zu enden. All diese Orte werden bei Kamila Shamsie in die Geschichte zweier Familien eingebunden, und unter dieser Überkonstruktion ächzt der Roman auch gewaltig. Zunächst verlässt die nach Konrads Tod heimatlos gewordene Hiroko ihre Heimatstadt Nagasaki und reist nach Britisch Indien. Dort lebt Konrads Schwester, die mit James Burton, einem britischen Kolonialherrn, verheiratet ist. Doch das Empire liegt bereits in den letzten Zügen und bald müssen die Burtons Indien verlassen. In Burtons Haus lernt Hiroko Sajjad Ali Ashraf kennen, in den sie sich verliebt. Sajjad gehört zur muslimischen Bevölkerung Delhis und wird, wie so viele andere Muslime auch, nach der Teilung des Landes gezwungen, nach Pakistan überzusiedeln. Hiroko begleitet ihn und lebt viele Jahre lang mit Sajjad in Karatschi. In Karatschi wächst auch ihr gemeinsamer Sohn Raza auf. Als erwachsener Mann arbeitet Raza zunächst mit Burtons Sohn zusammen für eine amerikanische Sicherheitsfirma in Afghanistan. Dort wird er schließlich als Terrorist verdächtigt und 2002 in Guantánamo interniert. Ans Messer liefert ihn am Ende ausgerechnet Burtons Enkelin.
Viel Stoff – selbst für einen Roman von fast 500 Seiten. Die 36-jährige Autorin, von der bereits drei weitere umfangreiche Romane auf Deutsch erschienen sind, hat eine sehr üppig erzählte Geschichte mit Schmökerqualitäten vorgelegt. Man verfolgt die über mehrere Generationen dramatisch miteinander verquickten Familiengeschichten der Burtons und der Ashrafs zunächst mit Spannung. Im Kern erzählen sie immer wieder vom Verlust der Heimat. "Meine Welt gibt es nicht mehr", sagt der aus Delhi verbannte Muslim Sajjad einmal, und dieser Satz gilt auch für alle anderen Figuren in "Verglühte Schatten". Doch die Autorin – selbst Pakistanerin, die größtenteils in England lebt – wollte zu viel und mästet ihre beiden fiktiven Familien geradezu mit Historie. Kein geschichtlicher Hotspot des 20. Jahrhunderts durfte fehlen. Daran leider krankt dieser dicht erzählte, doch stark überkonstruierte Roman.
Besprochen von Katharina Borchardt
Kamila Shamsie: Verglühte Schatten
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Bloomsbury, Berlin 2009
480 Seiten, 22,95 Euro
Mit Kamila Shamsies neuem Roman "Verglühte Schatten" hat die literarische Globalisierung eine neue Dimension erreicht: Die Geschichte beginnt 1945 in Japan, geht im indischen Delhi weiter, wechselt dann nach Pakistan und Afghanistan, um in den USA und schließlich 2002 in Guantánamo zu enden. All diese Orte werden bei Kamila Shamsie in die Geschichte zweier Familien eingebunden, und unter dieser Überkonstruktion ächzt der Roman auch gewaltig. Zunächst verlässt die nach Konrads Tod heimatlos gewordene Hiroko ihre Heimatstadt Nagasaki und reist nach Britisch Indien. Dort lebt Konrads Schwester, die mit James Burton, einem britischen Kolonialherrn, verheiratet ist. Doch das Empire liegt bereits in den letzten Zügen und bald müssen die Burtons Indien verlassen. In Burtons Haus lernt Hiroko Sajjad Ali Ashraf kennen, in den sie sich verliebt. Sajjad gehört zur muslimischen Bevölkerung Delhis und wird, wie so viele andere Muslime auch, nach der Teilung des Landes gezwungen, nach Pakistan überzusiedeln. Hiroko begleitet ihn und lebt viele Jahre lang mit Sajjad in Karatschi. In Karatschi wächst auch ihr gemeinsamer Sohn Raza auf. Als erwachsener Mann arbeitet Raza zunächst mit Burtons Sohn zusammen für eine amerikanische Sicherheitsfirma in Afghanistan. Dort wird er schließlich als Terrorist verdächtigt und 2002 in Guantánamo interniert. Ans Messer liefert ihn am Ende ausgerechnet Burtons Enkelin.
Viel Stoff – selbst für einen Roman von fast 500 Seiten. Die 36-jährige Autorin, von der bereits drei weitere umfangreiche Romane auf Deutsch erschienen sind, hat eine sehr üppig erzählte Geschichte mit Schmökerqualitäten vorgelegt. Man verfolgt die über mehrere Generationen dramatisch miteinander verquickten Familiengeschichten der Burtons und der Ashrafs zunächst mit Spannung. Im Kern erzählen sie immer wieder vom Verlust der Heimat. "Meine Welt gibt es nicht mehr", sagt der aus Delhi verbannte Muslim Sajjad einmal, und dieser Satz gilt auch für alle anderen Figuren in "Verglühte Schatten". Doch die Autorin – selbst Pakistanerin, die größtenteils in England lebt – wollte zu viel und mästet ihre beiden fiktiven Familien geradezu mit Historie. Kein geschichtlicher Hotspot des 20. Jahrhunderts durfte fehlen. Daran leider krankt dieser dicht erzählte, doch stark überkonstruierte Roman.
Besprochen von Katharina Borchardt
Kamila Shamsie: Verglühte Schatten
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Bloomsbury, Berlin 2009
480 Seiten, 22,95 Euro