"Die größte politische Katastrophe meines Lebens"
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Der deutsch-britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze blickt mit Schrecken nach Großbritannien. Für das Brexit-Desaster macht er vor allem die politische Klasse in London verantwortlich.
Der deutsch-britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat vor dem Hintergrund des Brexits mit der politischen Klasse in Großbritannien abgerechnet. Im Deutschlandfunk Kultur sprach Tooze von einem "Desaster" und der "größten politischen Katastrophe seines Lebens".
Man könne im britischen Fall unmittelbar nachvollziehen, wie Zuwanderung und wirtschaftliche Schwierigkeiten das politische Klima in Großbritannien seit der Jahrtausendwende verändert hätten, erläuterte der Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Die politische Klasse in London sei in vielen Fällen verantwortungslos mit den wirtschaftlichen Spannungen umgegangen, sagte Tooze.
"Lotterie mit tragischen Konsequenzen"
Dies sei dann der Hintergrund für den Volksentscheid im Sommer 2016 über den Brexit gewesen. Die Abstimmung bezeichnete Tooze als "Lotterie mit tragischen Konsequenzen". Es sei populistisch gewesen, dem britischen Volk die Entscheidung auf diese Weise zu überlassen. Die Frage der Volkssouveränität könne man "nicht so platt" stellen, kritisierte er.
Für ihn persönlich sei der Brexit ein "schwerer persönlicher Schlag", sagte Tooze. Er sei zwar in einer priveligierten Position und müsse nicht fürchten, nicht mehr nach Deutschland reisen zu dürfen:
"Worum es (aber) geht ist dieses Gefühl, beheimatet zu sein und eine rechtliche Sicherheit zu haben. Zu wissen: Ich bin jetzt zwar Brite, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen, ich habe die prägenden Jahre meiner Kindheit in Heidelberg verbracht. Ich möchte dort wohnen können, reisen können, ich möchte niemanden um Erlaubnis bitten müssen", betonte er.
(ahe)
Das Interview im Wortlaut
Ute Welty: Theoretisch hätte das die Woche der Entscheidung sein können in Sachen Brexit, theoretisch würde Großbritannien am Freitag aus der EU austreten – aber womöglich gibt es eine weitere Verlängerung bis Ende Juni und womöglich gibt es ein anderes Austrittsdatum zwischen dem 12. April und dem 30. Juni. All das geht auch an die Substanz von Adam Tooze. Der Wirtschaftshistoriker wurde in Großbritannien geboren, ist in Deutschland aufgewachsen und forscht und lehrt in den USA. Zuletzt analysierte er in seinem Buch "Crashed" die Hintergründe und die Auswirkungen der Finanzkrise. Seinen Blick auf den Brexit hat mir Adam Tooze im "Studio 9"-Gespräch geschildert.
Adam Tooze: Das ist die größte politische Katastrophe meines Lebens, wie für Millionen andere Menschen mit Migrationshintergrund, die zwischen Großbritannien und Europa verbunden sind. Man verliert aufgrund einer wirklich zweifelhaften Volksentscheid-Mehrheit den einzigen rechtlichen Rahmen, der der persönlichen Identität wirklich entspricht: nicht entscheiden zu müssen – einen britischen Pass mit European-Union-Mitgliedschaft verbinden zu können, und das ist natürlich für viele von uns in keiner Weise eine persönliche Wahl, sondern einfach Schicksal der Kindheit. Es ist ein Angriff auf diesen rechtlichen Rahmen. Das ist also ein sehr, sehr schwerer persönlicher Schlag.
Verlust rechtlicher Sicherheit
Welty: Wenn Sie sagen, die größte politische Katastrophe Ihres Lebens, was macht Ihnen da dann die größte Sorge?
Tooze: Für mich persönlich, muss ich sagen, ich bin in einer sehr privilegierten Position. Ich muss jetzt nicht darum fürchten, nach Deutschland reisen zu können. Worum es geht, ist wirklich dieses Gefühl, beheimatet zu sein und eine rechtliche Sicherheit zu haben; zu wissen, ich bin jetzt zwar Brite, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen, ich habe die prägenden Jahre meiner Kindheit in Heidelberg verbracht. Ich möchte dort wohnen können, reisen können, ich möchte niemanden um Erlaubnis bitten müssen. Es geht um diese Mischung aus konkreter Verunsicherung und einem tieferen Gefühl, die rechtlich verankerte Möglichkeit verloren zu haben, entsprechend seiner eigenen Biografie sich zwischen Großbritannien und Europa aufzuhalten.
Welty: Jetzt beschäftigt sich der Wirtschaftshistoriker, der Sie ja sind, vor allem mit der Analyse der Vergangenheit. Das haben Sie getan in Ihrem Buch "Crashed" in Bezug auf die Finanzkrise. Entdecken Sie Parallelen zur aktuellen Situation in Großbritannien?
Tooze: Ja. Wenn Sie sagen, ich beschäftige mich mit der Vergangenheit – im letzten Buch ging es wirklich unmittelbar um die letzten zehn Jahre. Das letzte Kapitel des Buches, die letzten Kapitel handeln vom Brexit und von der Trump-Regierung in Amerika.
Und man kann im britischen Fall ziemlich genau nachvollziehen, wie die zunehmenden wirtschaftlichen Spannungen, die Krise von 2008, die Eurozonen-Krise, die sehr großen Migrationsbewegungen seit der Jahrtausendwende das britische, politische Klima verändert haben – natürlich nicht von sich aus. Das ist kein natürlicher Prozess, das hängt auch zusammen mit dem mehr oder weniger verantwortungsvollen – und in vielen Fällen sehr verantwortungslosen – Umgang der britischen politischen Klasse mit diesen wirtschaftlichen Spannungen.
Da existiert aber wirklich einen Hintergrund für diese Volksentscheidung im Sommer 2016: Das Ressentiment gegen London, die kosmopolitische Stadt an sich, das sich in großen Teilen in England sich ausgebreitet hat; das Gefühl, in einem Wettbewerb zu stehen mit Migranten aus Europa aufgrund der Austeritätspolitik in großen Teilen des britischen öffentlichen Lebens. Das sind alles Faktoren, die in diese knappe Wahlentscheidung hineingeführt haben.
Risiken von Referenden
Welty: Agiert Politik grundsätzlich zu leichtsinnig oder zu leichtfertig? Werden Risiken in Kauf genommen, die eigentlich gar nicht zu handlen sind?
Tooze: Eine plebiszitäre Politik, eine Politik von solchen Referenden, unterliegt, glaube ich, immer diesem Risiko. Es gibt einen Grund, warum eine parlamentarische Demokratie zu bevorzugen ist, weil dadurch sehr komplexe Sachfragen nicht unmittelbar politisch thematisiert werden, sondern vermittelt über den Prozess der Parteienbildung und des parlamentarischen Aushandelns.
Wenn man eine so komplexe Frage, verbunden mit vielen, vielen hypothetischen Fragen wie etwa "Was ist, wenn wir jetzt mit den Franzosen und den Iren und den Deutschen zusammensitzen und jetzt aushandeln müssen, was jetzt in Nordirland geschieht?" – das kann man ja verantwortungsvoll nicht im Voraus bestimmen, wie ein solcher Verhandlungsprozess ausgeht. Das zur Wahl zu stellen und zu fragen, "Leute, wollt ihr mit dabei sein oder lieber aussteigen?"; und dann im Vorfeld der Wahl natürlich wurden unglaublich viele, vollkommen utopische Prognosen gemacht über den möglichen Ausgang eines Brexit – es lief ja alles unter dem Schlagwort "Take back control", und wir wissen, dass sich das in das genau Umgekehrte verkehrt hat: all das macht eine Politik des Volksentscheids tatsächlich, glaube ich, zu einer Lotterie.
Das ist ein Glücksspiel in gewisser Weise und mit ganz tragischen Konsequenzen für die britische Politik. Selbst wenn man sich einlässt auf den Brexit-Vorschlag, wenn es tatsächlich ein berechtigtes Bedürfnis der Menschen ist, Kontrolle wiederzugewinnen, muss man ja sagen, dass das in einem absoluten Desaster geendet hat. Die britische Politik wartet jetzt im Grunde auf die Entscheidung der EU, wie es jetzt weitergeht.
"Es war ein konsultatives Referendum"
Welty: Das heißt, das Volk sollte nicht in jedem Fall der Souverän sein?
Tooze: Nein, die Frage der Volkssouveränität kann man nicht so platt stellen. Es ist eines der wirklichen Irrwege der britischen Diskussion: Es war ja ein konsultatives Referendum. Es gibt im Verfahren, im Prozedere der britischen Politik eigentlich keine feste institutionalisierte Rolle für einen solchen Volksentscheid. Es war ein wahrhaft populistisches Versprechen der Führung der Tory-Partei, dem britischen Volk diese Entscheidung aufzugeben, und das wurde dann hochstilisiert zu dem Ausdruck der Volkssouveränität. Das ist an sich ein fahrlässiger Umgang mit diesem Versprechen.
Welty: Und wenn Sie den Blick in die Zukunft wagen: Sehen Sie irgendwo ein Licht am Ende dieses sehr speziellen Euro-Tunnels?
Tooze: Ich meine, es gibt im Moment offensichtlich zwei Wege, die zu einem relativen zahmen Ausgang der Geschichte führen würden.
Das eine wäre ein vernünftiger Verhandlungsprozess, der zu einem Norwegen-Plus-Ausgang führt. Das würde gewisser Weise die Ehre der Brexit-Leute retten in dem Sinne, dass Großbritannien tatsächlich aussteigen würde aus den politischen Prozessen und Entscheidungsprozessen der EU, was sehr abträglich wäre, aber es würde zu wenig praktischen Umstellungen führen.
Das andere ist natürlich, dass England und Großbritannien den ganzen Prozess aufhält und dann letztendlich neu überlegt und gewisser Weise in der EU verbleibt. Das wäre natürlich für die Reputation der britischen Politik ein absolutes Desaster. Man kann sich ja kaum etwas Peinlicheres vorstellen, aber im Grunde wäre das natürlich der vernünftigste Ausgang im Moment. Wir haben es auf die Probe gestellt, wir haben festgestellt, es ist praktisch unmöglich für Großbritannien, auch aufgrund seiner historischen Komplexität. Die irische Frage, das ist ja kein technisches Detail, das sitzt ja tief in der Geschichte des britischen Empires, ist verankert dieses Problem, und wenn es tatsächlich so ist, dass das nicht geht, muss man sich wirklich was anderes überlegen und mit dem politischen Vorlaut dann zurechtkommen, der natürlich dann auch tragisch wäre.
Welty: Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über den Brexit als die größte politische Katastrophe seines Lebens.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.