Historiker: Beginn des Holocaust nicht auf einen Tag festlegen
Das Protokoll der Wannseekonferenz öffne ein Fenster in die Prozesse damals, sagt der Holocaust-Forscher Peter Longerich. Er glaubt aber nicht, dass die alleinige Entscheidung für die von den Nazis geplante so genannte Endlösung der Judenfrage am 20. Januar 1942 gefallen ist, sondern dass es einen langfristigen Entscheidungsprozess gegeben habe.
Matthias Hanselmann: Vor fast genau 70 Jahren, am 20. Januar 1942, trafen sich 15 hohe Beamte der obersten Behörden des Deutschen Reiches, der NSDAP und der SS, in einer Villa in Berlin-Wannsee. Auf der Tagesordnung stand die sogenannte Endlösung der Judenfrage. Das Protokoll dieser Konferenz gilt als ein Schlüsseldokument in der Holocaust-Forschung, allerdings gehen Historiker heute davon aus, dass die Vernichtung der europäischen Juden nicht an diesem einzigen Tag beschlossen worden sein kann. Unser Gast ist Peter Longerich, er ist Professor am Royal Holloway College der Universität von London und Holocaust-Forscher. Herzlich willkommen im "Radiofeuilleton", guten Tag!
Peter Longerich: Guten Tag!
Hanselmann: Der Tag der Wannseekonferenz war auch für Sie nicht der Tag, von dem der Holocaust ausging. Was hat dieses Datum markiert, welche Rolle hat die Wannseekonferenz in der Geschichte des Holocaust gespielt?
Longerich: Ja, man hat früher versucht, in der Forschung einen Tag zu fixieren, an dem die Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden getroffen wurde, aber ich denke, nachdem so viel Forschung in dem Bereich geleistet worden ist, haben wir eine Vorstellung davon, dass das ein sehr komplexes Unternehmen gewesen ist, ein Unternehmen, was sehr viele Menschen, sehr viele Institutionen involviert hat und dass es einen eher langfristigen Entscheidungsprozess gegeben hat, in dem dieser verhängnisvolle Entschluss dann gefasst wurde.
Und das Besondere an dem Wannseeprotokoll ist, dass wir wie mit einem Schnappschuss einen Ausschnitt aus diesem Entscheidungsprozess haben. Wir haben also eine wichtige Konferenz, bei der Vertreter von Staatsorganisationen, der SS, der NSDAP zusammenkamen, und es erlaubt uns sozusagen, es öffnet für uns ein Fenster in diesen Prozess. Und ich glaube, darin liegt die Bedeutung dieses Papiers heute.
Hanselmann: Was genau wurde eigentlich auf dieser Konferenz beraten?
Longerich: Ja, zunächst mal, das Protokoll gibt natürlich nicht exakt das wieder, was auf der Konferenz besprochen wurde, sondern wie das so üblich ist, wenn man eine Sitzung abhält, man schickt hinterher ein Protokoll herum, man manipuliert etwas daran, man verändert etwas, und dann wartet man ab, ob die Teilnehmer der Konferenz dagegen Einspruch einlegen. Und so wird es auch hier gewesen sein.
Also im Grunde genommen gibt das Protokoll sehr stark das wieder, was Heydrich als Ergebnis dieser Konferenz festhalten wollte. Es ging aus der Sicht Heydrichs - Heydrich war ja der Chef des Reichssicherheitshauptamtes und verantwortlich für die sogenannte Endlösung - es ging ihm darum, die Vertreter der Staatsbürokratie in dieses Programm zur Ermordung der europäischen Juden zu involvieren. Er entwickelte eine Perspektive, er sprach davon, dass die Juden nach Osten deportiert werden würden, dort zur Zwangsarbeit eingesetzt werden sollten und dass diejenigen, die diese sehr harten Zwangsarbeitsbedingungen überleben würden, dass die entsprechend behandelt werden würden, wie er sich ausdrückte, also ermordet werden sollten.
Und aus dem Kontext ergibt sich, dass die Kinder und Frauen, die deportiert werden sollten und auch nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten, natürlich auch keine Überlebenschance haben würden. Das war also das Programm, was er dort entwickelte. Und es zeigt sich nun, wenn man genau in das Protokoll hineinschaut, dass auch andere Vorschläge auf dieser Konferenz gemacht werden, nämlich gar nicht auf diese große Deportation in die Sowjetunion, so wie das damals noch geplant war, zu warten, sondern Teile dieser sogenannten Endlösung jetzt schon, schneller in den betreffenden Regionen vorzunehmen.
Und es zeichnet sich hier bereits ab, dass die Vertreter des Generalgouvernements, also des besetzten Polens, dass die deutschen Vertreter dort meinten, man könnte doch eine Lösung in ihrem Gebiet suchen. Das heißt, wir sind hier in einer Übergangsphase, wo ein alter Plan noch existiert, die Juden in den Osten zu deportieren und durch eine Mischung aus verschiedenen Umständen und verschiedenen Maßnahmen umzubringen, auf der anderen Seite ein Plan hier offensichtlich erscheint, dass man sozusagen auch noch radikaler und schneller vorgehen könnte. Also man kann hier sehr deutlich sehen, dass hier die ersten Vorschläge gemacht werden, die Juden in Gaskammern umzubringen.
Hanselmann: Sie haben gesagt, dass dieser Tag zwar wichtig ist, aber sozusagen ein Eckpunkt in einem Entscheidungsprozess. Seit wann und auf welchen Ebenen lief denn bereits vorher ein Entscheidungsprozess zur Vernichtung der europäischen Juden?
Longerich: Ja, man muss sich einfach vor Augen halten, dass bereits mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, der ja als ein rassistischer Vernichtungskrieg geführt wurde, dass da bereits im Sommer 1941 der systematische Mord an Juden begann. Es sind bereits zur Zeit der Wannseekonferenz mehrere Hunderttausend Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten, aber auch schon in Polen ermordet worden. Insofern ist dieses ganze Mordprogramm bereits in Gang gekommen. Und es geht jetzt darum, wie dieses Programm auf die übrigen europäischen Länder ausgeweitet wird. Das ist im Grunde genommen auch das, was zu diesem Zeitpunkt zur Debatte steht.
Hanselmann: Ist die grundsätzliche Entscheidung zum Völkermord an den Juden eigentlich bereits vor der Wannseekonferenz getroffen worden, also als grundsätzliche Entscheidung am 12. Dezember 1941 nach dem Kriegseintritt der USA, wie der Historiker Christian Gerlach vor einigen Jahren geschrieben hat?
Longerich: Darum geht eben die Debatte unter den Historikern, ob es möglich ist, ein solches Datum in diesem Entscheidungsprozess besonders herauszuheben und ihm eine bestimmte Bedeutung zu geben, und da gibt es auch Meinungsunterschiede. Das Problem ist einfach, dass die Dokumentation nicht ausreichend ist, um wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit einen bestimmten Tag festzulegen.
Ich gehöre zu denjenigen, die eher sagen, es handelt sich um einen eher fließenden Entscheidungsprozess, in dem man eine ganze Reihe von Höhepunkten festmachen kann, aber Sie müssen auch sehen, dass die Täter ja auch sozusagen auf unbekanntem Territorium operierten. Sie wussten nicht, was das bedeutete, wie man sechs Millionen Menschen umbringt. Also sie haben sozusagen experimentiert, sie haben Versuche angestellt, so schrecklich sich das anhört, und sie hatten nicht von Anfang an ein festgefügtes Programm. Dieses Programm entstand eigentlich erst zu einem Zeitpunkt, als die Morde schon in Gang gekommen waren und alles eigentlich mehr oder weniger um die Frage der Methode und um die Frage der Geschwindigkeit ging.
Hanselmann: Haben das Feststecken des Russland-Feldzuges, der Kriegseintritt der USA auch etwas damit zu tun, dass man sich entschied, das Vernichtungsprogramm schon während des Krieges zu beginnen?
Longerich: Das wäre meine These, dass man ursprünglich eine allgemeine recht vage Vorstellung hatte, in irgendeiner Weise die Juden Europas am Ende des Krieges, nach dem Ende des Krieges umzubringen, vielleicht durch eine Kombination von Deportationen, von Sklavenarbeit, von Krankheiten, die dann ausbrechen würden und Ähnlichem, und dass man dieses Programm im Laufe des Krieges, der sich ja 1941/42 dann zum Weltkrieg ausweitete, sozusagen dieses Programm beschleunigte und radikalisierte, also an die Bedingungen, so wie die Nazis den Krieg wahrnahmen, anpassten. Und das erklärt meiner Ansicht nach diese Serie von Ansprachen, von Konferenzen, von Besprechungen, die wir gerade im Winter 41/42 haben. Da geht es darum, diese allgemeine Vorstellung einer Vernichtung in ein konkretes Programm umzusetzen. Und das Protokoll der Wannseekonferenz ist eben ein ganz wichtiger Ausschnitt aus diesem Entscheidungsprozess.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Peter Longerich. Er ist renommierter Holocaust-Forscher und zurzeit Professor an der Universität von London. Unser Thema "Die Wannseekonferenz", die vor 70 Jahren in Berlin stattgefunden hat und auf der die von den Nazis geplante sogenannte Endlösung der Judenfrage beraten wurde. Herr Longerich, im Jahr 1942 gab es ja schon lange Konzentrationslager, schon 1933 hatte die SA KZs für politische Gefangene eingerichtet. Waren sie schon vor der Wannseekonferenz auch auf die Vernichtung von Juden ausgerichtet worden, diese Konzentrationslager?
Longerich: Der Bau von Vernichtungslagern beginnt eigentlich im Herbst 1941 in Polen. Also die ersten Vorbereitungen für den Bau von Belzec etwa, dem Vernichtungslager des damaligen Distrikts Lublin, der lässt sich bis Oktober 1941 zurückverfolgen. Diese Gaswagenstation, auch ein Vernichtungslager, Chelmno, begann das Morden im Dezember 1941, und es waren schon seit September 1941 Experimente mit Gas in Auschwitz, allerdings nicht an jüdischen Häftlingen, zunächst unternommen worden.
Also Sie sehen aus diesen Daten, dass eine Entwicklung bereits in Gang gekommen war - eher auf einer experimentellen Ebene, auf einer Versuchsebene, noch nicht unbedingt mit dem Gedanken, alle Juden Europas zu ermorden. Aber eine Regierung, eine Regime, das begonnen hat, über Mittel nachzudenken, wie man große Mengen von Menschen systematisch in speziellen Vernichtungslagern umbringt, die hat im Grunde genommen eine Politik eingeleitet, hinter der sie nicht mehr zurückfahren kann. Sie wird sozusagen in den nächsten Monaten ... Sie hat einen Vernichtungsprozess ausgelöst, der nicht mehr abzustoppen ist.
Und so ist zu erklären, dass sich diese Entwicklung dann in den nächsten Monaten weiter beschleunigt, und so ist auch zu erklären, dass man nach Möglichkeiten sucht, dieses Programm noch effizienter zu machen, es noch radikaler durchzuführen und es nach Möglichkeit vor dem Ende des Krieges abzuschließen und nicht auf das Kriegsende zu warten, das ja zu diesem Zeitpunkt bereits in einer unsicheren weiten Ferne zu liegen schien.
Hanselmann: Man könnte ja auch auf den Gedanken kommen, dass Hitler und seine Leute zumindest teilweise gar nicht mehr so sicher waren, ob sie den Krieg überhaupt gewinnen würden, und daraufhin beschlossen haben, die Juden schon im Krieg zu ermorden, um Hitlers Drohung von der Vernichtung der jüdischen Rasse wahrzumachen.
Longerich: Ja, das spielt alles eine Rolle in diesem Winter 1941/42. Man war zunächst davon ausgegangen, dass es gelingen würde, diesen Krieg im Osten zumindest doch bis zum Jahresende 41 abzuschließen, und jetzt ist man in einer ganz anderen Situation. Man führt einen Weltkrieg, man hat den USA den Krieg erklärt, und es ist völlig unkalkulierbar, wie lange dieser Krieg dauern würde.
Es ist auch nicht völlig klar, dass er siegreich beendet werden könnte, er könnte möglicherweise aus der Sicht der Nazis auch vielleicht in einem Kompromissfrieden enden. Das war völlig unklar zu diesem Zeitpunkt, und deswegen - das ist einer der wesentlichen Motive - auch dieser Druck, sozusagen ein ganz zentrales Ziel der Nationalsozialisten. Und das bestand ja darin, den von Deutschland beherrschten Raum wie es damals hieß judenfrei zu machen, dieses Ziel vor Ende des Krieges zu erreichen.
Hanselmann: Noch eine allgemeine Frage zur Holocaust-Forschung: Wie weit ist man, was ist der gegenwärtige Stand? Ist man sich unter den Wissenschaftlern im Prinzip einig über alles, was gelaufen ist, oder gibt es noch kontroverse Themen?
Longerich: Es gibt nach wie vor kontroverse Themen. Es geht, wie Sie hier sehen auch an diesem Beispiel, darum, welche, ganz präzise, welche Bedeutung man nun der Wannseekonferenz in diesem Entscheidungsprozess geben soll. Aber im Großen und Ganzen über die Rekonstruktion dieses Mordprogramms, über die Motive besteht weitgehend Einigkeit unter den Historikern.
Hanselmann: Wir bedanken uns bei Peter Longerich. Er ist renommierter Holocaust-Forscher und als Professor in London tätig. Morgen hält er einen Vortrag bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Wannseekonferenz in Berlin. Das genauere Programm finden Sie im Internet unter www.ghwk.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Longerich: Guten Tag!
Hanselmann: Der Tag der Wannseekonferenz war auch für Sie nicht der Tag, von dem der Holocaust ausging. Was hat dieses Datum markiert, welche Rolle hat die Wannseekonferenz in der Geschichte des Holocaust gespielt?
Longerich: Ja, man hat früher versucht, in der Forschung einen Tag zu fixieren, an dem die Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden getroffen wurde, aber ich denke, nachdem so viel Forschung in dem Bereich geleistet worden ist, haben wir eine Vorstellung davon, dass das ein sehr komplexes Unternehmen gewesen ist, ein Unternehmen, was sehr viele Menschen, sehr viele Institutionen involviert hat und dass es einen eher langfristigen Entscheidungsprozess gegeben hat, in dem dieser verhängnisvolle Entschluss dann gefasst wurde.
Und das Besondere an dem Wannseeprotokoll ist, dass wir wie mit einem Schnappschuss einen Ausschnitt aus diesem Entscheidungsprozess haben. Wir haben also eine wichtige Konferenz, bei der Vertreter von Staatsorganisationen, der SS, der NSDAP zusammenkamen, und es erlaubt uns sozusagen, es öffnet für uns ein Fenster in diesen Prozess. Und ich glaube, darin liegt die Bedeutung dieses Papiers heute.
Hanselmann: Was genau wurde eigentlich auf dieser Konferenz beraten?
Longerich: Ja, zunächst mal, das Protokoll gibt natürlich nicht exakt das wieder, was auf der Konferenz besprochen wurde, sondern wie das so üblich ist, wenn man eine Sitzung abhält, man schickt hinterher ein Protokoll herum, man manipuliert etwas daran, man verändert etwas, und dann wartet man ab, ob die Teilnehmer der Konferenz dagegen Einspruch einlegen. Und so wird es auch hier gewesen sein.
Also im Grunde genommen gibt das Protokoll sehr stark das wieder, was Heydrich als Ergebnis dieser Konferenz festhalten wollte. Es ging aus der Sicht Heydrichs - Heydrich war ja der Chef des Reichssicherheitshauptamtes und verantwortlich für die sogenannte Endlösung - es ging ihm darum, die Vertreter der Staatsbürokratie in dieses Programm zur Ermordung der europäischen Juden zu involvieren. Er entwickelte eine Perspektive, er sprach davon, dass die Juden nach Osten deportiert werden würden, dort zur Zwangsarbeit eingesetzt werden sollten und dass diejenigen, die diese sehr harten Zwangsarbeitsbedingungen überleben würden, dass die entsprechend behandelt werden würden, wie er sich ausdrückte, also ermordet werden sollten.
Und aus dem Kontext ergibt sich, dass die Kinder und Frauen, die deportiert werden sollten und auch nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten, natürlich auch keine Überlebenschance haben würden. Das war also das Programm, was er dort entwickelte. Und es zeigt sich nun, wenn man genau in das Protokoll hineinschaut, dass auch andere Vorschläge auf dieser Konferenz gemacht werden, nämlich gar nicht auf diese große Deportation in die Sowjetunion, so wie das damals noch geplant war, zu warten, sondern Teile dieser sogenannten Endlösung jetzt schon, schneller in den betreffenden Regionen vorzunehmen.
Und es zeichnet sich hier bereits ab, dass die Vertreter des Generalgouvernements, also des besetzten Polens, dass die deutschen Vertreter dort meinten, man könnte doch eine Lösung in ihrem Gebiet suchen. Das heißt, wir sind hier in einer Übergangsphase, wo ein alter Plan noch existiert, die Juden in den Osten zu deportieren und durch eine Mischung aus verschiedenen Umständen und verschiedenen Maßnahmen umzubringen, auf der anderen Seite ein Plan hier offensichtlich erscheint, dass man sozusagen auch noch radikaler und schneller vorgehen könnte. Also man kann hier sehr deutlich sehen, dass hier die ersten Vorschläge gemacht werden, die Juden in Gaskammern umzubringen.
Hanselmann: Sie haben gesagt, dass dieser Tag zwar wichtig ist, aber sozusagen ein Eckpunkt in einem Entscheidungsprozess. Seit wann und auf welchen Ebenen lief denn bereits vorher ein Entscheidungsprozess zur Vernichtung der europäischen Juden?
Longerich: Ja, man muss sich einfach vor Augen halten, dass bereits mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, der ja als ein rassistischer Vernichtungskrieg geführt wurde, dass da bereits im Sommer 1941 der systematische Mord an Juden begann. Es sind bereits zur Zeit der Wannseekonferenz mehrere Hunderttausend Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten, aber auch schon in Polen ermordet worden. Insofern ist dieses ganze Mordprogramm bereits in Gang gekommen. Und es geht jetzt darum, wie dieses Programm auf die übrigen europäischen Länder ausgeweitet wird. Das ist im Grunde genommen auch das, was zu diesem Zeitpunkt zur Debatte steht.
Hanselmann: Ist die grundsätzliche Entscheidung zum Völkermord an den Juden eigentlich bereits vor der Wannseekonferenz getroffen worden, also als grundsätzliche Entscheidung am 12. Dezember 1941 nach dem Kriegseintritt der USA, wie der Historiker Christian Gerlach vor einigen Jahren geschrieben hat?
Longerich: Darum geht eben die Debatte unter den Historikern, ob es möglich ist, ein solches Datum in diesem Entscheidungsprozess besonders herauszuheben und ihm eine bestimmte Bedeutung zu geben, und da gibt es auch Meinungsunterschiede. Das Problem ist einfach, dass die Dokumentation nicht ausreichend ist, um wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit einen bestimmten Tag festzulegen.
Ich gehöre zu denjenigen, die eher sagen, es handelt sich um einen eher fließenden Entscheidungsprozess, in dem man eine ganze Reihe von Höhepunkten festmachen kann, aber Sie müssen auch sehen, dass die Täter ja auch sozusagen auf unbekanntem Territorium operierten. Sie wussten nicht, was das bedeutete, wie man sechs Millionen Menschen umbringt. Also sie haben sozusagen experimentiert, sie haben Versuche angestellt, so schrecklich sich das anhört, und sie hatten nicht von Anfang an ein festgefügtes Programm. Dieses Programm entstand eigentlich erst zu einem Zeitpunkt, als die Morde schon in Gang gekommen waren und alles eigentlich mehr oder weniger um die Frage der Methode und um die Frage der Geschwindigkeit ging.
Hanselmann: Haben das Feststecken des Russland-Feldzuges, der Kriegseintritt der USA auch etwas damit zu tun, dass man sich entschied, das Vernichtungsprogramm schon während des Krieges zu beginnen?
Longerich: Das wäre meine These, dass man ursprünglich eine allgemeine recht vage Vorstellung hatte, in irgendeiner Weise die Juden Europas am Ende des Krieges, nach dem Ende des Krieges umzubringen, vielleicht durch eine Kombination von Deportationen, von Sklavenarbeit, von Krankheiten, die dann ausbrechen würden und Ähnlichem, und dass man dieses Programm im Laufe des Krieges, der sich ja 1941/42 dann zum Weltkrieg ausweitete, sozusagen dieses Programm beschleunigte und radikalisierte, also an die Bedingungen, so wie die Nazis den Krieg wahrnahmen, anpassten. Und das erklärt meiner Ansicht nach diese Serie von Ansprachen, von Konferenzen, von Besprechungen, die wir gerade im Winter 41/42 haben. Da geht es darum, diese allgemeine Vorstellung einer Vernichtung in ein konkretes Programm umzusetzen. Und das Protokoll der Wannseekonferenz ist eben ein ganz wichtiger Ausschnitt aus diesem Entscheidungsprozess.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Peter Longerich. Er ist renommierter Holocaust-Forscher und zurzeit Professor an der Universität von London. Unser Thema "Die Wannseekonferenz", die vor 70 Jahren in Berlin stattgefunden hat und auf der die von den Nazis geplante sogenannte Endlösung der Judenfrage beraten wurde. Herr Longerich, im Jahr 1942 gab es ja schon lange Konzentrationslager, schon 1933 hatte die SA KZs für politische Gefangene eingerichtet. Waren sie schon vor der Wannseekonferenz auch auf die Vernichtung von Juden ausgerichtet worden, diese Konzentrationslager?
Longerich: Der Bau von Vernichtungslagern beginnt eigentlich im Herbst 1941 in Polen. Also die ersten Vorbereitungen für den Bau von Belzec etwa, dem Vernichtungslager des damaligen Distrikts Lublin, der lässt sich bis Oktober 1941 zurückverfolgen. Diese Gaswagenstation, auch ein Vernichtungslager, Chelmno, begann das Morden im Dezember 1941, und es waren schon seit September 1941 Experimente mit Gas in Auschwitz, allerdings nicht an jüdischen Häftlingen, zunächst unternommen worden.
Also Sie sehen aus diesen Daten, dass eine Entwicklung bereits in Gang gekommen war - eher auf einer experimentellen Ebene, auf einer Versuchsebene, noch nicht unbedingt mit dem Gedanken, alle Juden Europas zu ermorden. Aber eine Regierung, eine Regime, das begonnen hat, über Mittel nachzudenken, wie man große Mengen von Menschen systematisch in speziellen Vernichtungslagern umbringt, die hat im Grunde genommen eine Politik eingeleitet, hinter der sie nicht mehr zurückfahren kann. Sie wird sozusagen in den nächsten Monaten ... Sie hat einen Vernichtungsprozess ausgelöst, der nicht mehr abzustoppen ist.
Und so ist zu erklären, dass sich diese Entwicklung dann in den nächsten Monaten weiter beschleunigt, und so ist auch zu erklären, dass man nach Möglichkeiten sucht, dieses Programm noch effizienter zu machen, es noch radikaler durchzuführen und es nach Möglichkeit vor dem Ende des Krieges abzuschließen und nicht auf das Kriegsende zu warten, das ja zu diesem Zeitpunkt bereits in einer unsicheren weiten Ferne zu liegen schien.
Hanselmann: Man könnte ja auch auf den Gedanken kommen, dass Hitler und seine Leute zumindest teilweise gar nicht mehr so sicher waren, ob sie den Krieg überhaupt gewinnen würden, und daraufhin beschlossen haben, die Juden schon im Krieg zu ermorden, um Hitlers Drohung von der Vernichtung der jüdischen Rasse wahrzumachen.
Longerich: Ja, das spielt alles eine Rolle in diesem Winter 1941/42. Man war zunächst davon ausgegangen, dass es gelingen würde, diesen Krieg im Osten zumindest doch bis zum Jahresende 41 abzuschließen, und jetzt ist man in einer ganz anderen Situation. Man führt einen Weltkrieg, man hat den USA den Krieg erklärt, und es ist völlig unkalkulierbar, wie lange dieser Krieg dauern würde.
Es ist auch nicht völlig klar, dass er siegreich beendet werden könnte, er könnte möglicherweise aus der Sicht der Nazis auch vielleicht in einem Kompromissfrieden enden. Das war völlig unklar zu diesem Zeitpunkt, und deswegen - das ist einer der wesentlichen Motive - auch dieser Druck, sozusagen ein ganz zentrales Ziel der Nationalsozialisten. Und das bestand ja darin, den von Deutschland beherrschten Raum wie es damals hieß judenfrei zu machen, dieses Ziel vor Ende des Krieges zu erreichen.
Hanselmann: Noch eine allgemeine Frage zur Holocaust-Forschung: Wie weit ist man, was ist der gegenwärtige Stand? Ist man sich unter den Wissenschaftlern im Prinzip einig über alles, was gelaufen ist, oder gibt es noch kontroverse Themen?
Longerich: Es gibt nach wie vor kontroverse Themen. Es geht, wie Sie hier sehen auch an diesem Beispiel, darum, welche, ganz präzise, welche Bedeutung man nun der Wannseekonferenz in diesem Entscheidungsprozess geben soll. Aber im Großen und Ganzen über die Rekonstruktion dieses Mordprogramms, über die Motive besteht weitgehend Einigkeit unter den Historikern.
Hanselmann: Wir bedanken uns bei Peter Longerich. Er ist renommierter Holocaust-Forscher und als Professor in London tätig. Morgen hält er einen Vortrag bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Wannseekonferenz in Berlin. Das genauere Programm finden Sie im Internet unter www.ghwk.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.