Historiker Brendan Simms

Der richtige Zeitpunkt zum Umbau Europas

In einer Tasse mit einem EU-Symbol steckt eine US-Fahne, aufgenommen in einem Büro in Dresden.
Die Vereinigten Staaten könnten als Vorbild für einen engeren Zusammschluss europäischer Staaten dienen, fordert der irische Historiker Brendan Simms in seinem neuen Buch. © picture-alliance / dpa / Arno Burgi
Brendan Simms im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der irische Historiker Brendan Simms sieht den richtigen Moment gekommen, um die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen. Einen solchen engeren Zusammenschluss nach dem Vorbild Großbritanniens oder der USA fordert der Wissenschaftler in seinem neuen Buch "Europa am Abgrund"
Es gebe jetzt noch den nötigen Spielraum, um eine politische Union der europäischen Staaten zu gründen, sagte der irische Historiker Brendan Simms im Deutschlandradio Kultur. Die Krise dürfte in einigen Monaten oder Jahren noch stärker sein. "Das heißt, wir müssen die Möglichkeiten, die wir im Moment haben, nutzen, um Europa umzubauen", sagte Simms, der zusammen mit dem deutschen Historiker Benjamin Zeeb das neue Buch "Europa am Abgrund" verfasst hat. Auf diese Weise könnte Europa in der Lage sein, Krisen stand zu halten, sagte Simms.

USA und Großbritannien als Vorbilder

Neben den USA sei auch Großbritannien ein gutes Vorbild, sagte Simms. Schottland und England seien auch unterschiedliche Nationen, die sich als Völker nicht besonders schätzten, sich aber vor 300 Jahren dennoch in einer politischen Union zusammen gefunden hätten. Damals sei Frankreich der gemeinsame Feind gewesen. "Ich glaube in Europa verstehen wir uns als Nationen sehr viel besser, aber wir haben viele gemeinsame Feinde und Probleme", sagte Simms. "Um dieser Probleme Herr zu werden, müssen wir die Europäische Union in eine richtige politische Union umbauen."

Mehr Durchblick

Simms sagte, den heutigen Regierungen in Europa fehle es am nötigen Durchblick, den die Gründungsväter der USA noch besessen hätten. "Das waren ja sehr intelligente Menschen, die auch einen Weitblick hatten, die zurückschauten in der Geschichte", sagte der Historiker. Sie hätten nach Modellen gesucht und die Engländer und Schotten zum Vorbild genommen. "Ich glaube, so einen Moment bräuchten wir unter den Regierungen Europas."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wenn man ein Buch in die Hand nimmt, das den Titel trägt "Europa am Abgrund", dann erwartet man eine traurige Bestandsaufnahme und düstere Thesen für die Zukunft, eine Dystopie. Das heute in Deutschland erscheinende Buch mit eben diesem Titel, das ist aber eher ein Utopie, und das merkt man am Untertitel, denn der lautet "Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa". Dieses Plädoyer stammt von dem irischen Historiker Brendan Simms und seinem deutschen Kollegen Benjamin Zeeb. Brendan Simms ist Professor für Geschichte der Internationalen Beziehungen am Center of International Studies der Universität Cambridge und jetzt für uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Simms!
Brendan Simms: Guten Morgen!
Kassel: Ein Europa, das sich völlig uneinig ist, was die Flüchtlingspolitik angeht, das sich völlig uneinig war, was die Lösung der griechischen Schuldenkrise angeht, das ständig darüber diskutiert, ob man vielleicht eine Kernunion braucht, um die anderen Mitglieder zu EU-Mitgliedern zweiter Klasse zu machen. Diesem Europa jetzt zuzurufen, wandle dich zu den Vereinigten Staaten von Europa, ist das nicht irgendwie der falsche Moment?
Simms: Ich glaube, jetzt ist genau der richtige Moment, denn all diese Veränderungen können eigentlich nur gemacht werden, wenn man ein bisschen Spielraum hat, das heißt, wenn wir glauben, die Krise ist jetzt sehr stark – in einigen Monaten oder Jahren wird sie noch stärker sein. Das heißt, wir müssen die Möglichkeit, die wir im Moment haben, nutzen, um Europa umzubauen, damit wir bereit sind oder imstande sind, Krisen in den nächsten Jahren standzuhalten.

Gemeinsame Feinde und Probleme

Kassel: Sie nennen als Vorbild für diese neue Union, die dann kein Staatenbund mehr ist, sondern wirklich ein eigener Staat, nennen Sie natürlich die USA, das liegt nahe, aber auch das Vereinigte Königreich. Aber Wales, Schottland und England sind doch kulturell und in anderen Dingen viel näher beieinander. Warum kann das ein Vorbild sein für die Vereinigten Staaten von Europa?
Simms: Ich glaube, es ist gerade nicht der Fall. Schottland und England zum Beispiel sind Nationen, mögen sich noch nicht mal als Völker besonders, das hat man ja in der letzten Zeit so ein bisschen gesehen. Und trotzdem haben sie sich auf Gedeih und Verderb in einer politischen Union zusammengefunden, weil sie damals vor 300 Jahren einen gemeinsamen Feind, sprich das Frankreich Ludwigs XIV. hatten. Und ich glaube, in Europa verstehen wir uns als Nationen sehr viel besser, aber wir haben viele gemeinsame Feinde und Probleme. Und um dieser Probleme Herr zu werden, müssen wir die Europäische Union in eine richtige politische Union umbauen.
Kassel: Einer der Gründe, die Sie nennen in diesem Buch ist natürlich auch die Euro-Krise, die wir gehabt haben, wo ja auch andere sagen, eine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ist eigentlich Unfug, und das hat die Geschichte jüngst ja jetzt auch bewiesen. Aber die Einsicht in Europa, dass man enger zusammenwachsen muss, ist doch eigentlich nicht da, oder?
Simms: Ich glaube, diese Einsicht ist schon da. Wenn man den Umfragen glauben soll, gibt es keine Mehrheiten für den Austritt aus dem Euro. Nicht mal die Griechen, die nun wirklich unter Auflagen leiden, wollen aus dem Euro austreten, die Deutschen auch nicht. Das heißt, man hat A gesagt, aber man will nicht B sagen. Und das ist ein Zustand, der ist in der Tat nicht mehr haltbar. Und aus verschiedenen Gründen können wir auch nicht zurückgehen. Es gibt keinen Urzustand, in dem Europa glücklich oder sicher wieder zurückfallen könnte. Das heißt, wir haben praktisch keine andere Möglichkeit, als wirklich diese nächsten Schritte zu unternehmen, genauso wie damals, was die Engländer und Schotten und die Amerikaner gemacht haben – die haben wirklich die Gunst der Stunde genutzt, um einen sicheren, einen festen Bund zu schaffen.

Mehr Weitblick nötig

Kassel: Aber wie wollen Sie das den beiden Gruppen verkaufen, die das wirklich einsehen müssten. Das eine sind die Regierungen, und das andere sind die Einwohner der EU. Wir haben es ja erlebt bei dem Versuch, eine gemeinsame Verfassung zu schaffen. Das ist ganz schnell an Volksbefragungen in einigen wenigen Ländern schon gescheitert.
Simms: Ich glaube, dass das Problem mit den Regierungen ist, dass sie durch eine solche Union sozusagen redundant werden würden. Und ich glaube, dass die Regierungen auch, sagen wir mal insgesamt nicht den Durchblick haben, den meinetwegen die Patrioten, die Founding Fathers der Vereinigten Staaten hatten. Das waren ja sehr intelligente Menschen, die auch einen Weitblick hatten, die zurückschauten in der Geschichte, und die sich gefragt haben, welche Modelle sollten wir benutzen – ich spreche jetzt vom späten 18. Jahrhundert –, um die Vereinigten Staaten zu sichern. Und dann haben sie gesagt, wir wollen das so machen wie vorher die Engländer und die Schotten. Und ich glaube, so einen Moment bräuchten wir unter den Regierungen Europas.
Kassel: Aber da fällt mir jetzt – entschuldigen Sie bitte – der Anfang unseres Gesprächs ein, den haben wir doch gerade jetzt nicht. Die polnische Regierung, die neue, hat erst mal beschlossen, bei offiziellen Veranstaltungen im Inland nicht mal mehr die EU-Fahne zu zeigen. Nach den Wahlen in der Slowakei werden Sie doch gerade dieser neuen Regierung, wie auch immer sie aussieht, sagen können, schafft euch selber ab, damit wir eine europäische Regierung haben.
Simms: Ja, aber ganz ähnlich war es auch damals in Amerika. Die waren damals durch die Articles of Confederation vereint, das heißt, es war eine Konföderation, keine Union. Es gab große Streitigkeiten unter den Staaten. Und das wurde, gerade diese Tatsache, wurde als Argument ins Feld geführt, um eine engere Union zu schaffen. Damals haben sich Leute wie John Jay, wie Alexander Hamilton, James Madison haben gesagt, wenn wir uns nicht zusammentun als Amerikaner, dann werden wir getrennt als Menschen aus Virginia oder aus New York oder aus Pennsylvania scheitern.
Und sie haben sicher auch gesagt, wir haben wenig Zeit, denn überall in der Welt lauern potenziell Feinde der Vereinigten Staaten, das heißt, die Engländer im Norden, in Kanada, die Piraten auf der hohen See, und verschiedene andere Feinde, beispielsweise die Spanier im Süden, was später Florida wurde. Das heißt also, dass diese Gefahren erkannt worden sind und auch die Gefahr der Zerstrittenheit. Und ich glaube, wenn wir die Probleme richtig sehen würden in Europa, würden wir das erkennen und einen ähnlichen Weg einschlagen. Das heißt, was die Polen betrifft jetzt ganz spezifisch, müsste man denen sagen, wenn ihr Hilfe gegenüber Russland, gegenüber Putin braucht, dann müsst ihr auch in anderen Fragen euch solidarisch zeigen. Es kann nicht sein, dass man sich hier die Rosinen herauspickt.
Kassel: Kurz zum Schluss, wir sind ja jetzt beim Faktor Zeit, wie viel Zeit hat die EU denn noch, um sich umzuwandeln, bevor es zu spät ist?
Simms: Das kann man als Historiker – ich bin ja Historiker und kein Prophet – nicht sagen. Aber kumulativ häufen sich jetzt die Krisen, und ich glaube, dass es in einigen Jahren entweder in der Euro-Krise oder in der Sicherheitskrise oder schon früher in der Migrationskrise zum Krach kommen wird, wenn wir nicht diese feste Union schaffen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Brendan Simms, Benjamin Zeeb, Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa, C.H.Beck Verlag, 12,95 Euro.

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