Edgar Wolfrum, Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts
Klett Cotta Verlag 2017, 25 Euro
"Wir haben eine ziemlich anarchische Weltordnung"
07:28 Minuten
Neue Konflikte, gescheiterte Staaten, Unordnung in den Machtverhältnissen. Wie geht es weiter auf dem Globus? Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum erwartet, dass sich Europa von der früheren US-Führungsmacht emanzipieren wird und sieht darin eine "Chance".
"Trump ist für vier Jahre gewählt und wir müssen mal schauen, ob er durchhält", sagte Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, im Deutschlandradio Kultur. "Ich bezweifele das." Die Beziehungen zwischen Europa und den USA seien stabil. Der US-Präsident spreche auch nicht für die gesamten USA. "Für Europa ist das eine gewisse Chance."
Seit den 1990er Jahren hätten die Europäer es sich immer leicht gemacht und die USA beispielsweise im Bosnien-Krieg zur Hilfe gerufen. "Jetzt müssen sie sich selbst organisieren." Die Freundschaft zu den USA bleibe erhalten, aber es werde auch eine gewisse Emanzipation geben. "Paradoxerweise liegt eben in der Präsidentschaft von Donald Trump auch eine europäische Chance." Die EU könne wieder stärker zusammenrücken.
Europäisches Narrativ im 21. Jahrhundert
Wolfrum sagte, es gebe unverändert ein eigenes europäisches Narrativ, das auch im 21. Jahrhundert gelten könne. "Wir müssen das Narrativ nicht neu erfinden", sagte Wolrum. Er nannte drei Punkte, die Europa immer ausgezeichnet und stark gemacht hätten: Europa als Friedensmacht, der Durchbruch zu Freiheit und Demokratie sowie die Erfindung des Sozialstaats.
Konferenz mit Lerneffekt
Der Historiker betonte die Bedeutung großer internationaler Konferenz, die zu Lerneffekten führen könnten.
Wolfrum nimmt an der Münchner Sicherheitskonferenz teil, die heute in München beginnt und zu der rund 500 Gäste erwartet werden.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute beginnt sie wieder, die Münchner Sicherheitskonferenz, ein fester Termin im Jahreskalender von Militärexperten, Politikern und Zeithistorikern. Mehr als 500 Teilnehmer werden über den alarmierenden Zustand der internationalen Ordnung und das Erstarken illiberaler Kräfte debattieren. So unbeständig wie wohl zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei sie, die sicherheitspolitische Lage der Welt, und das sieht nicht nur Wolfgang Ischinger so, der Vorsitzender der Konferenz.
Wir haben uns dem Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum verabredet, der an der Sicherheitskonferenz teilnimmt. Er befasst sich mit Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen, um ihn zu fragen, ob man aus der Geschichte lernen, ja, Handlungsanleitungen ableiten kann. Professor Wolfrum, ich grüße Sie!
Edgar Wolfrum: Guten Morgen!
von Billerbeck: Vieles von dem, was uns heute besorgt, ist im vergangenen Jahrhundert angelegt, und ihr gerade erschienenes jüngstes Buch heißt ja auch "Welt im Zwiespalt". Was hat denn die internationale Ordnung dahin gebracht, wo wir heute stehen?
Wolfrum: Prinzipiell muss man sagen, wir waren ja schon mal weiter, als wir heute sind. In der Zeit des Kalten Krieges, also bis 1989/90, war die Welt geordnet, Ost-West-Konflikt, das war alles zwischen gut und böse geteilt, je nach Sichtweise. Und dann beginnen eben in den 1990er-Jahren neue Konflikte. Wir haben neue Kriege – in Jugoslawien, dann Irak, Afghanistan –, wir haben gescheiterte Staaten, "failed states". Es kommen ganz, ganz neue Konflikte auf, und in diesen Konflikten hat nur eine Supermacht reagiert und das waren die USA. Und das führte auch zu einer gewissen Hybris der USA, eine Demütigung Russlands auf der anderen Seite. Russland bombte sich dann im Syrienkrieg wieder an den Verhandlungstisch zurück. Also wir haben im Grunde genommen seit 1990er-Jahren eine ziemlich anarchische Weltordnung, und deren Resultat sehen wir heute.
Fokus auf das Thema USA
von Billerbeck: Die Sicherheitskonferenz liegt ja den Fokus in München diesmal besonders auf das Thema USA – für uns in Europa ja ein mittlerweile, sagen wir vorsichtig ausgedrückt, schwieriger Partner. Aber liegt in dieser Schwierigkeit nicht auch eine Chance für Europa?
Wolfrum: Das würde ich schon ausdosieren. Man muss natürlich auch sagen, Trump ist für vier Jahre gewählt, und wir müssen mal schauen, ob er durchhält. Ich bezweifle das. Die Beziehungen zwischen Europa und den USA sind älter und stabiler, und Trump spricht auch nicht für die gesamten Vereinigten Staaten, das muss man schon sehen. Für Europa ist es eine gewisse Chance.
Die Europäer haben es sich seit den 1990er-Jahren immer sehr leicht gemacht. Immer, wenn es zu handeln galt – Balkankriege und so weiter –, haben die Europäer die USA zu Hilfe gerufen. Jetzt müssen sie, glaube ich, sich selbst organisieren. Freundschaft mit den USA ja, aber gleichzeitig eben auch eine gewisse Emanzipation. Und paradoxerweise liegt eben in der Präsidentschaft von Donald Trump hier auch eine europäische Chance. Man sieht das ja auch heute schon, wie die Europäer nach den ganzen Krisen der letzten Jahre doch wieder stärker zusammenrücken. Das kann eine Chance sein für Europa.
von Billerbeck: Und in der europäischen Union – wir sind ja mittendrin im Ausstieg der Briten und wir sind mittendrin in einer Aufnahmekrise, was die Flüchtlinge betrifft –, da wird ja immer gern das Allheilmittel ausgerufen, um den Zerfall der Gemeinschaft zu stoppen. Da wird sich auf die europäischen Gemeinsamkeiten berufen, auf ein europäisches Narrativ, sagt man immer gern. Gibt es das überhaupt noch, hilft das?
Wolfrum: Natürlich hilft das, und es gibt es auch, wir müssen das Narrativ gar nicht neu erfinden. Meines Erachtens sind es drei Punkte, die Europa immer ausgezeichnet haben und stark gemacht haben: Das ist zum einen Europa als Friedensmacht nach den beiden Weltkriegen, die auf europäischem Kontinent ausgetragen wurden, ein Kontinent der Gewalt, also Europa als Friedensmacht. Und das Zweite: Durchbrüche zu Freiheit und Demokratie, 1989/90 die Revolution im Osten Europas, auch das ist ein Selbstbefreiungsnarrativ, Freiheit. Und das Dritte, auch ganz wichtig: Europa ist der Kontinent, auf dem der Sozialstaat erfunden wurde.
Also diese drei Dinge zusammen – Friedensmacht, Freiheit und Demokratie und Sozialstaatlichkeit –, wenn wir die neu betonen und stärker betonen als bisher, dann haben wir eigentlich ein europäisches Narrativ, das auch für das 21. Jahrhundert gelten kann.
Warnung vor China
von Billerbeck: Trotzdem hat man den Eindruck, die Welt ist aus den Fugen und wir brauchen wen, der sie wieder kittet. Kann der Blick in die Geschichte helfen – Sie haben sich ja damit befasst –, um Zukunftsentscheidungen zu treffen?
Wolfrum: Also wer es kitten kann, weiß ich natürlich auch nicht, ich würde nur davor warnen, dass wir diesen Kitt von autoritären Staaten wie etwa China, auf die einige jetzt setzen, dass dieser Kitt von China kommen kann. Also wer auf China setzt, eine Diktatur, der wird noch sein blaues Wunder erleben. Aus der Geschichte lernen ja, aber nicht so, dass man eins zu eins Handlungsanleitungen ableiten kann, das ist natürlich nicht der Fall. Geschichte ist ja auch anders, als Friedrich Schiller das vor 200 Jahren meinte, ist anders als ein Lauf zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes. Davon haben wir Abstand genommen. Aber der Rückblick kann klüger für gegenwärtige Situationen machen.
Geschichte ist immer einmalig, und sie wiederholt sich nicht, aber Konstellationen sind vergleichbar. Und wenn wir auf die Geschichte blicken, den Blick zurück schärfen, können wir, glaube ich, auch besser die Zukunft meistern. Und ein Punkt, der immer wieder auffällt, wenn Mächte zusammenarbeiten, wenn sie Unionen schließen, dann sind wir eigentlich eher auf dem Weg in eine friedliche Welt. Wenn jeder Alleingänge unternimmt, dann wird es problematisch, und das ist der heutige Fall, dass viele Länder dieser Welt – mittlerweile eben auch die USA – Alleingänge unternehmen, und dann wird die Welt brandgefährlich.
Wichtiger Austausch in München
von Billerbeck: Sie sind bei der Münchner Sicherheitskonferenz Teilnehmer, warum sind solche Treffen da wichtig, wenn die jeweiligen Akteure ja doch manchmal die Deutungshoheit über bestimmte Ereignisse aus ihrer eigenen Sicht auf die jüngste Geschichte begründen?
Wolfrum: Jeder begründet seine eigene Identität aus der eigenen Sicht, das ist klar, trotzdem gibt es natürlich immer Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und anderen Sichtweisen. Prinzipiell muss man sagen, dass solche internationale Treffen ganz wichtig sind, weil sie auch zu Lerneffekten führen. Wir haben im 20. Jahrhundert große Konferenzen, die dann tatsächlich zu Lerneffekten geführt haben. Vergessen Sie nicht die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975, das war eine ganz wichtige Konferenz auf dem Weg zur Verständigung. Und sobald die handelnden Mächte an einem Tisch sitzen und zum Austausch gelangen, führt das am Ende auch zu neuen Sichtweisen. Es gibt keine Alternative dazu – Abschottung und nicht miteinander reden wäre der ganz falsche Weg.
von Billerbeck: Einschätzungen waren das von dem Historiker Edgar Wolfrum von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg vor der heute beginnenden Münchner Sicherheitskonferenz. Ich danke Ihnen!
von Billerbeck: Das Gespräch mit ihm haben wir aus Termingründen aufgezeichnet, und wenn Sie Edgar Wolfrums Buch lesen wollen: Es heißt "Welt im Zwiespalt: Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts", bei Klett-Cotta erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.