Historiker in der politischen Debatte

"Traumatische Erfahrungen in Erinnerung halten"

Die Autorin Barbara Stollberg-Rilinger wird am 23.03.2017 auf der Buchmesse in Leipzig (Sachsen) mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik ausgezeichnet.
Barbara Stollberg-Rilinger lehrt Geschichte mit dem Schwerpunkt frühe Neuzeit an der Universität Münster und ist seit September 2018 Direktorin des Wissenschaftskollegs Berlin. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Barbara Stollberg-Rilinger im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Historische Traumata im Lauf der Generationen wieder zu vergessen, sei "ungeheuer gefährlich", warnt Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger. Hier sieht sie eine wichtige Rolle für ihren Berufsstand.
Liane von Billerbeck: Heute beginnt in Münster der alle zwei Jahre stattfindende Deutsche Historikertag, der größte geisteswissenschaftliche Kongress Europas. Auch meine Interviewpartnerin Barbara Stollberg-Rilinger ist dabei und diskutiert dort über das Thema "Die Komfortzone verlassen – zur politischen Relevanz von Geschichtswissenschaft heute". Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin an der Uni Münster, Historikerin mit Forschungsgebiet frühe Neuzeit und zudem seit noch nicht mal einem Monat Direktorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
Gestern Abend hat sie zum Berliner Empfang die Fellows und Gäste des Historikertags willkommen geheißen, und wir wollen mit ihr heute darüber sprechen, inwieweit sich die HistorikerInnen stärker in die politische Debatte einmischen sollten und wo sie Gefahr laufen, politisch instrumentalisiert zu werden.
Frau Stollberg-Rilinger, in einer Zeit, in der die neue Rechte zu einer relevanten politischen Kraft geworden ist, rufen viele auch nach einer politischeren, in Anführungsstrichen, Geschichtswissenschaft, die sich auch in die öffentliche Debatte einmischt. Gehören Sie auch dazu?

Die Gefahr des Vergessens

Stollberg-Rilinger: Ja, wobei ich als Neuzeithistorikerin vielleicht nicht unmittelbar gefordert bin, mich in solche Debatten einzumischen, weil ich nicht kompetenter bin als viele andere, was die unmittelbare Vergangenheit gerade Deutschlands angeht. Aber mir ist als Historikerin natürlich auch bewusst, dass es ungeheuer gefährlich ist, wenn man historische Traumata, die wir ja nun erlebt haben, wieder vergisst im Laufe der Generationen. Und ich habe den Eindruck, dass genau das der Fall ist, dass die Generation derer, die sich noch an die Katastrophen des 20. Jahrhundert persönlich erinnern, allmählich ausstirbt und die Enkelgeneration nicht mehr wirklich weiß, wie entsetzlich diese Erfahrungen waren und das möglicherweise zu vergessen droht.
Und da sind natürlich insbesondere die Zeithistoriker gefordert, diese Erinnerung wachzuhalten, mehr als jemand wie ich, der sich mit früheren Epochen befasst, das hat eine andere politische Dimension. Ich denke, es ist schon sehr, sehr wichtig, dass die Historiker jetzt, gar nicht politisch im engeren Sinne Partei ergreifen, aber einfach die Erinnerung wachhalten.

"Natürlich wiederholt sich Geschichte nie"

von Billerbeck: Ist es das, was wir denn von der Geschichtswissenschaft auch lernen können, auf die gegenwärtige politische Lage bezogen?
Stollberg-Rilinger: Ich denke, das ist einmal eine ganz wesentliche Lehre, die man beherzigen muss: Traumatische Erfahrungen in Erinnerung halten und die Fehler nicht zu wiederholen. Ich bin ein Skeptiker, was die Frage angeht, inwiefern man unmittelbar aus Geschichte lernen kann.
Natürlich wiederholt sich Geschichte nie. Es ist immer eine völlig neue Konstellation. Auch jetzt ist die politische Lage insgesamt auf der Welt natürlich eine andere als in den 1930er-Jahren, das ist überhaupt keine Frage. Man kann nicht unmittelbar Handlungsanweisungen aus der Geschichte ableiten. Das ist immer natürlich eine Frage der jeweilig neuen politischen Debatte. Und man kann nicht parteipolitisch Handlungsanweisungen aus der Geschichte ableiten. Aber man kann schon grundlegende Erfahrungen in Erinnerung halten.
von Billerbeck: Auch die neue Rechte beruft sich ja immer gerne auf die Geschichte, beispielsweise, um da nationale Mythenbildung zu betreiben. Sind denn Schlussfolgerungen aus der Geschichte nicht immer relativ und auch politisch höchst umstritten?

Geschichtsschreibung ist nicht beliebig

Stollberg-Rilinger: Ja, natürlich. Die Geschichte ist sozusagen nicht als solche vorhanden, sondern sie muss immer wieder neu geschrieben und sie muss immer wieder neu ins Bewusstsein gerufen werden. Das tut jede Generation und vielleicht auch jeder Historiker auf eine andere Weise und jeder hat eine andere Perspektive. Und allein schon durch die Auswahl der Ereignisse, die man beleuchtet, durch die Auswahl der Quellen, auf die man sich stützt, wird man die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel schildern. Es gibt sie als solche nicht, es gibt nur ein unglaubliches, ein Wirrwarr, ein Chaos aus Quellen – und daraus wird immer wieder neu Geschichte geformt und erzählt.
Das ist vollkommen richtig, aber es ist nicht beliebig, was man aus diesen Quellenmassen macht, sondern es gibt bestimmte Regeln, es gibt bestimmte methodische Standards, deswegen kann man auch von Geschichtswissenschaft sprechen und nicht einfach von Geschichtserzählung oder Geschichtsschreibung, sondern Geschichtswissenschaft im Sinne einer methodisch kontrollierten Art und Weise, mit den Quellen umzugehen.
Daher ist es eben nicht beliebig, wie man Geschichte schreibt. Insofern ist Geschichtswissenschaft nicht, es ist nicht völlig plastisch, man kann nicht alles draus machen. Es wird zwar immer wieder alles Mögliche daraus gemacht, aber dann muss man eben kritisch fragen: Ist das eine bewusste Erzählung in einer bestimmten Absicht, um eine bestimmte politische Position zu legitimieren oder ist es eine auf sachlichen, methodischen Standards beruhende Rekonstruktion.

Fassungslos vor dem Verlust von Standards

von Billerbeck: Die Geschichtswissenschaft und die Wissenschaft im Allgemeinen steht ja derzeit sehr unter Druck, wir gucken nach Polen, Ungarn oder wir gucken uns die massiven Angriffe von US-Präsident Trump an auf gesicherte Forschungsergebnisse, die er dann als Fake Science diskreditiert. Liegt das auch daran, dass sich viele Wissenschaftler politisch tatsächlich zu weit aus dem Fenster lehnen?
Stollberg-Rilinger: Ich glaube nicht, dass man die Schuld an dieser Situation den Wissenschaftlern in die Schuhe schieben kann. Wir sind ja alle fassungslos vor diesem vollkommenen Verlust aller formalen Regeln, Standards, methodischer Regeln, Regeln des Debattierens, auch überhaupt formaler Verfahrensregeln. Die Ursachen zu analysieren bin ich nicht kompetent genug, aber jeder Wissenschaftler zumindest ist ja fassungslos davor.
Und ich weiß auch kein wirkliches Mittel dagegen, auf jeden Fall denke ich, die Wissenschaftler selber können nur immer wieder – wie auch die Juristen und andere Fachleute auf anderen Gebieten –, können immer wieder nur ganz deutlich sagen, es gibt bestimmte formale Regeln, die ohne Ansehen der Person und ohne Ansehen von Parteilichkeit und Parteiinteressen Geltung haben müssen. Und daran muss man immer wieder erinnern, das sind die großen Errungenschaften der Moderne, würde ich sagen, dass die Justiz ihre eigenen Regeln hat, die Wissenschaft ihre eigenen Regeln, und diese Regeln alle sozusagen formale, unparteiliche, überparteiliche Regeln sind, an die sich alle halten müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema