Vorstoß für neues NS-Dokumentationszentrum
10:09 Minuten
In einem Brief an den Deutschen Bundestag fordern prominente Historiker ein NS-Dokumentationszentrum, das der Opfer im Osten Europas gemeinsam gedenkt. Doch es gibt auch Zweifel an diesem Ansatz.
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Denkmal für die Sinti und Roma, für die verfolgten Homosexuellen und auch für die Opfer der Euthanasie-Aktion. Aber es erinnert kein Denkmal, kein Dokumentationszentrum an die Opfer des Vernichtungskrieges in Polen und in der ehemaligen Sowjetunion.
Seit Jahren wird über verschiedene Vorschläge diskutiert, Union und SPD haben das Thema in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, aber auch der Gedenktag am 8. Mai ist vergangen ohne etwas Konkretes. Jetzt kommt frischer Wind in die Debatte, sagt unsere Redakteurin Marianne Allweiss:
"Es sind prominente Personen, die sich an Wolfgang Schäuble wenden: die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und die beiden Historiker Heinrich August Winkler und Martin Aust. In einem Brief an den Bundestagspräsidenten fordern sie einen Ort der Dokumentation deutscher Besatzungsherrschaft in ganz Europa und einen Ort des Gedenkens an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges, insbesondere im Osten Europas. Und zwar in der Mitte Berlins.
Erinnerung an großes Leid
Nach anfänglichem Zögern habe die Bundesrepublik den Opfern des Holocaust einen gebührenden Platz eingeräumt, den Opfern der deutschen Besatzung aber nicht, erklärt der Bonner Osteuropahistoriker Aust. "Ich halte das für eine wichtige Vervollkommnung der Gedenktopografie und der deutschen Erinnerungskultur", sagt er. "Denn wir bringen mit diesen Denkmälern ja Empathie zum Ausdruck. Wir bringen zum Ausdruck, dass die vorangegangenen Generationen großes Leid über viele Menschen in Europa gebracht haben."
Zur Begründung für ihren Fokus speziell auf den Osten Europas schreiben die drei Wissenschaftler: Auch während der deutschen Besatzung in West- und Südeuropa habe es viele Kriegsverbrechen gegeben, aber im Vergleich dazu habe der deutsche Vernichtungskrieg im Osten einen systematischen Charakter gehabt. Sie appellieren an den Deutschen Bundestag, einen Ort zu schaffen für Information, Gedenken und Dialog, der keine Hierarchien der einzelnen Opfergruppen aufmacht, sondern die vielstimmigen Erinnerungsdiskurse von Polen, Belorussen, Ukrainern, Russen und anderen Nationalitäten aufzeigt.
Absage an Mausbach-Initiative
Damit wenden sich Assmann, Winkler und Aust gegen einen Erinnerungsort speziell für die polnischen NS-Opfer. Einen solchen hatte 2017 eine Initiative rund um den ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Florian Mausbach, gefordert. Dazu Aust: "Wenn man das einmal beginnt, und eines Teils der Opfer gedenkt, dann führt das zu der Frage, warum lasst Ihr andere eigentlich außen vor?"
Aust und seine Mitstreiter hoffen, dass die Politik noch in dieser Legislaturperiode eine Entscheidung trifft und die Leerstelle in der zentralen Berliner Gedenklandschaft füllt, um an den deutschen Vernichtungskrieg im Osten Europas zu erinnern.
Zustimmung und Skepsis
Den grundsätzlichen Verschlag, ein NS-Dokumentationszentrum zu schaffen, begrüßt auch der Historiker Stefan Troebst von der Universität Leipzig. "Ich glaube, dass nicht allen Deutschen heute noch bewusst ist, dass zeitweilig fast die gesamte Region vom Nordkap in Norwegen bis Libyen in Nordafrika, von Griechenland bis zu den britischen Kanalinseln, vom Kaukasus bis Bornholm vom nationalsozialistischen Deutschland okkupiert war."
Allerdings halte er ein gemeinsames Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges, insbesondere in Polen und der Sowjetunion, für problematisch. Schließlich sei während der ersten Phase des deutschen Vernichtungskrieges gegen Polen von 1939 bis 1941 der sowjetische Staatschef Stalin Hitlers Komplize gewesen. Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt hätten sich beide darauf geeinigt, Polen untereinander aufzuteilen. Die Rote Armee habe deshalb Polen angegriffen, dessen gesamte Osthälfte okkupiert und annektiert.
Zugleich habe die UdSSR den deutschen Angriffskriegen gegen Frankreich und Großbritannien durch umfangreiche Lieferungen kriegswichtiger Rohstoffe Vorschub geleistet. "Erst durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 löste Konfrontation die Kooperation im deutsch-sowjetischen Verhältnis ab", sagt Troebst. "Insofern kann man sagen, dass von 1939 bis 1941 Polen Opfer beider Diktaturen in Berlin und Moskau war." Eine polnisch-sowjetische Opfergemeinschaft, wie sie in dem Brief der Historiker aufscheine, habe es damals nicht gegeben.
Streit um die Erinnerung
Troebst zeigt sich skeptisch, ob sich alles an einem solchen Gedenkort dokumentieren lasse. In der Praxis sei das sehr schwer umzusetzen. Der Historiker verwies auf die erbitterten geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Kontroversen, die derzeit zwischen Warschau und Moskau ausgetragen werden. "Von Russland* und der Ukraine gar nicht erst zu sprechen." Er glaube nicht, dass es eine deutsche Aufgabe sei, "größere Nationalgrenzen überschreitende Gedenk-, Erinnerungs- und Opferkollektive zu stiften". Er sehe das Bestreben, die Erinnerung an die Verbrechen zu vereinheitlichen, mit gewisser Skepsis.
Troebst verwies darauf, dass auch bei der rund zehn Jahre dauernden, sehr kontroversen Debatte über das Holocaust-Denkmal in Berlin am Ende ein gemeinsames Konzept herausgekommen sei. Das habe dazu geführt, dass nach dem Bau des Denkmals keine weitere Debatte mehr gefolgt sei. "Insofern würde ich auch in diesem Fall dazu raten, sich die notwendige Zeit für ausführliche Diskussionen und Abwägen des Für und Widers zu nehmen."
(gem)
*An dieser Stelle haben wir das Zitat aus dem Interview auf Bitten des Gesprächspartners korrigiert.
*An dieser Stelle haben wir das Zitat aus dem Interview auf Bitten des Gesprächspartners korrigiert.