"Er war der erste Medienkanzler in der Bundesrepublik"
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Ein SPD-Regierungsprogramm, das sich nicht auf Sozial- und Arbeitsmarktthemen reduzierte, und die neue Ostpolitik waren nach Einschätzung des Historikers Jürgen Kocka die großen Erfolge und Neuerungen der Kanzlerschaft von Willy Brandt.
Ute Welty: Darf man als Kandidat für den SPD-Parteivorsitz Willy Brandt nachahmen? Diese Frage muss sich Boris Pistorius gefallen lassen, Innenminister von Niedersachsen, denn er hat genau das getan. Ich kann sagen, er kam damit so eher semi an. Willy Brandt gilt vielen in der SPD und darüber hinaus bis heute als Lichtgestalt, und welche Wirkung dieser Mann seit seiner Wahl zum Bundeskanzler heute vor 50 Jahren entfaltet hat, darüber spreche ich mit Sozialhistoriker Jürgen Kocka. Noch mal herzlich willkommen in Deutschlandfunk Kultur!
Jürgen Kocka: Guten Morgen!
Welty: Brandt war ja der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, und es heißt, er habe die SPD wieder stolz gemacht. Teilen Sie diese Einschätzung?
Kocka: Er hat kräftig dazu beigetragen. Man muss sich vorstellen, die Bundesrepublik war 20 Jahre lang nur von CDU-Kanzlern regiert worden. Die Tatsache, dass ein Sozialdemokrat Kanzler wurde, war per se eine zentrale Veränderung, und dafür stand Willy Brandt. Zum anderen, er war in der Emigration gewesen. Er war scharf angegriffen worden für seine Arbeit im Widerstand gegen Hitler. Er galt manchen als Vaterlandsverräter. Jetzt wird ein solcher Mann Bundeskanzler, und er sagte hinterher, damit ist Hitler endgültig überwunden worden, und für beides stand die SPD.
Ein Regierungsprogramm von internationaler Bedeutung
Welty: Wie hat diese Kanzlerschaft die Bundesrepublik verändert, und wie hat sie hineingewirkt in die DDR?
Kocka: Das wichtigste Programm war das der neuen Ostpolitik. Davon bezog die Regierung Brand ihre Kraft vor allem, und die Veränderung der Position der Bundesrepublik im System der internationalen Beziehungen war wohl die wichtigste Leistung dieser sozialliberalen Koalition unter Leitung Brandts und später unter Leitung Helmut Schmidts. Das hat auch in die DDR hineingewirkt in mehrfacher Hinsicht. Der DDR fiel es danach schwerer, die Bundesrepublik als Feind zu definieren, und das zu benutzen, um die eigene Bevölkerung zu disziplinieren und später 1989, '90 konnte man sagen, dass diese Politik des Wandels durch Annäherung - das war das Ziel von Brandt - ein Stück weit gewirkt hatte. Von daher ist die internationale und deutschlandpolitische Wirkung dieser neuen Regierung gar nicht zu überschätzen.
Welty: Welche Rolle hat sein Charisma gespielt? Es gibt ja zum Beispiel ein Foto von ihm, da sieht er eher aus wie ein Rockstar denn wie ein Politiker: mit Jeanshemd, Zigarette im Mundwinkel, Mandoline im Arm. Wie ist das angekommen?
Kocka: Er war der erste Medienkanzler in der Bundesrepublik. Zusammen mit seinen Kindern und seiner schönen Frau hat er auch sein Privatleben ein Stück weit sichtbar werden lassen. Er war gleichzeitig kein Schwarmgeist und auch kein exorbitanter, aus sich herausgehender Charakter. Er war eher ein Skeptiker, ein bisschen Melancholiker, zwischendurch durch Depressionen geprägt, aber er hat dann schrittweise eine Ausstrahlungskraft entwickelt. Im Jahr 1970 war er so etwas wie ein säkularisierter Heiland für einen Teil der Bevölkerung, aber er wurde gehasst von anderen. Er polarisierte in dieser Zeit, aber er hatte Charisma.
Welty: Diese vielen Erwartungen und Hoffnungen, die mit ihm verbunden waren dann auch, hat er ja auch selber befeuert. War am Ende der Druck dann doch zu groß?
Kocka: Er hat schon viel erreicht. Vielleicht gar nicht mal so sehr in einzelnen reformpolitischen Schritten, aber er hat die Legitimation der Bundesrepublik ein Stück weit nach links verschoben, und damit will ich sagen, dass er es fertiggebracht hat, linke Intelligenz, Künstler, Intellektuelle und natürlich Studenten in dieser Zeit der Studentenbewegung, junge Leute so zu gewinnen, dass sie diesen Staat akzeptierten, während sie ihn kritisierten, während ja bis dahin die Bundesrepublik manchmal als CDU-Staat bezeichnet worden war. Nun verbreiterte sich die Legitimationsbasis der Bundesrepublik, und zehn Jahre später, als es darum ging, wie sie sich mit der DDR wiedervereinigen würde, merkte man, wie viel Unterstützung die Bundesrepublik hatte. Das wäre vermutlich ohne diese sozialliberale Koalition nicht möglich gewesen. Aber ja: Es war ein Riesendruck, den er auszuhalten hatte. Dann im Jahre 1973, nachdem er wieder eine Bundestagswahl gewann, war er so ein bisschen ausgebrannt und hatte dann nicht mehr seine beste Zeit, bis er zurücktrat im Jahre 1974.
Gescheitert mit seinen innenpolitischen Reformen
Welty: Wenn Sie heute Bilanz ziehen, was ist ihm gelungen, und woran ist er gescheitert?
Kocka: Nun, an innenpolitischen Reformschritten ist vieles nicht gelungen. Beispielsweise wollte diese Regierung in Bezug auf Mitbestimmung sehr viel weiter kommen, als sie bis 1975 kam. Es ist gleichzeitig der Sozialstaat in einem Maße ausgebaut worden, dass die finanzielle Kraft der Bundesrepublik überfordert wurde. Die Verschuldung stieg astronomisch an, und der Anteil der öffentlichen Ausgaben, der für den Zinsendienst verwendet wurde, stieg ebenfalls. Das waren Alarmzeichen. Diese Dinge sind misslungen. Ihm ist auch misslungen die innere Befriedung der Partei. Die wurde immer kritischer. Andererseits war das für das Land eine Zäsur. In Hinsicht "Außenpolitik", "innere Legitimation" und auch "Bearbeitung der Vergangenheit", der Nazi-Vergangenheit durch diesen Kanzler, der dann auch in Warschau es zu dieser Geste der Versöhnung und der Schuldübernahme durch Niederknien vor dem Denkmal für das Ghetto brachte, waren das schon ganz entscheidende Jahre für die Bundesrepublik.
Welty: Was kann, was muss die SPD heute von Will Brandt lernen?
Kocka: Vor allem eins: Willy Brandt und seine Regierung beschränkten sich nicht auf klassische SPD-Themen wie Tarifpolitik und Sozialpolitik, sondern Brandt hatte ein Programm, das von der Außenpolitik über die Sozialpolitik bis in die Kulturpolitik hineinreichte. Dadurch ist es ihm gelungen, nicht nur große Teile der Arbeiterschaft zu halten, zu gewinnen, sondern auch große Teile des Bürgertums. Diesen Spagat hat die SPD in früheren Jahrzehnten nicht so gut gekonnt, und heute kann sie ihn auch nicht. Sie sollte versuchen, an diese Tradition des Spagat-Abschreitens anzuknüpfen und sich darum bemühen, eine Mehrzahl von sozialen Gruppen und Zielsetzungen zu bedienen.
Welty: Und wer wird in der Nachfolge von Willy Brandt der nächste Parteivorsitzende oder die nächste Parteivorsitzende?
Kocka: Ich bin Historiker und habe…
Welty: Kein Hellseher?
Kocka: …es mit der Vergangenheit und Gegenwart zu tun. Und ich tue mich manchmal schwer mit der Voraussage der Zukunft.
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