Historiker nennt Beschneidungsurteil "groben Unsinn"
Im Streit um des Urteilspruch des Kölner Landgerichts gegen die Beschneidung von Kindern als Straftat, warnt Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg und Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungssfreiheit des UN-Menschenrechtsrats, vor einem Abdrängen von Beschneidungen in die Illegalität. Er mahnt, das Urteil vernachlässige den Aspekt der Religionsfreiheit.
Liane von Billerbeck: Professor Heiner Bielefeldt ist jetzt mein Gesprächspartner. Der Erlanger Theologe und Historiker ist Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit des UN-Menschenrechtsrates (*), grüße Sie!
Heiner Bielefeldt: Ja, guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Die Beschneidung von Jungen, so wie sie im Judentum sowie im Islam traditionell vorgenommen wird, sei Körperverletzung, also eine Straftat. Das hat das Landgericht Köln entschieden und damit eine heftige Debatte ausgelöst über das Verhältnis von Religionsfreiheit und Menschenrechten. Nun sind Rituale für Religionen identitätsstiftend, dennoch: Wäre es nicht an der Zeit, sich von bestimmten Ritualen im Interesse der Menschenrechte zu verabschieden?
Bielefeldt: Nun, zunächst einmal gehört es selber zu den Menschenrechten, dass Menschen ihre Religionszugehörigkeit dokumentieren. Es geht ja nicht nur um den inneren Glauben, es geht auch um Glaubensgemeinschaft, es geht auch um rituelle Praxis. Das ist garantiert im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und schließt übrigens auch das Elternrecht ein, zunächst einmal sozusagen über die Religionszugehörigkeit von Kindern zu entscheiden, also auch Kinder religiös zu erziehen, religiös zu sozialisieren. Also, wir haben hier selber einen Menschenrechtsanspruch, der dann in der Tat abgewogen werden muss, wenn es einen Konflikt gibt mit möglicherweise anderen Ansprüchen, hier dem Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Mir scheint, dass das Landgericht Köln diese Abwägung in nicht überzeugender Weise geleistet hat, die Religionsfreiheit kommt da viel zu kurz darin.
von Billerbeck: Nun sagen Sie, das Elternrecht ist auch ein Menschenrecht, zunächst über die Religion der Kinder zu entscheiden.
Bielefeldt: Ja.
von Billerbeck: Aber die Beschneidung ist doch etwas, was diese Kinder nicht mehr rückgängig machen können!
Bielefeldt: Das ist wahr, das ist wahr. Und deshalb ist natürlich das Thema auch nicht zu leicht zu nehmen. Die UNO hat sich mit diesem Thema öfter beschäftigt, also etwa der Kinderrechtsausschuss. Aber interessant ist das Ergebnis: Also, auch in der Auseinandersetzung mit Praktiken in verschiedenen Ländern kommt der Kinderrechtsausschuss der UNO immer wieder dazu, zu sagen, bestimmte Bedingungen – etwa unhygienische, gefährliche Bedingungen, die müssen abgestellt werden, es gibt aber keine einzige Entscheidung des UNO-Kinderrechtsausschusses, die besagt, die Praxis als solche ist gegen die Kinderrechtskonvention, die Praxis als solche wäre dann auch menschenrechtswidrig. Diese Entscheidung gibt es nicht. Übrigens völlig anders – damit das gleich mal gesagt ist – als die Praxis der sogenannten Mädchenbeschneidung, da muss man ja regelrecht von Amputation reden! Der Begriff, der hat sich auch durchgesetzt, das ist ja Geschlechtsverstümmelung, das ist in der Tat eine andere Praxis. Der Kinderrechtsausschuss hat die männliche Zirkumzision, also, das heißt, die Entfernung der Vorhaut, wenn sie unter entsprechenden Bedingungen durchgeführt wird, bislang nicht als Verletzung thematisiert. Aber man muss es, man sollte es nicht zu leicht nehmen. Also, wir haben ja in der Tat sozusagen ein Thema, bei dem auch ein Stück Aufmerksamkeit geboten ist.
von Billerbeck: Nun gab es heftige Reaktionen, Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden, hat das Urteil einen unerhörten und unsensiblen Akt genannt, aus mehreren muslimischen Verbänden kommt ebenso heftige Kritik. Wie bewerten Sie die Empörung innerhalb der jüdischen und muslimischen Community in Deutschland?
Bielefeldt: Ja, also, die Empörung kann ich gut verstehen. Die ist ja übrigens auch von christlichen Kirchen zum Teil geteilt worden. Und zwar, das ist eben wirklich ein Problem, das im Urteilstext unangemessen angesprochen wird: Die Religionsfreiheit, die Bedeutung, auch die identitätsstiftende Bedeutung von religiösen Symbolen, auch von solchen Riten, bei denen man im Einzelfall dann in der Tat genauer hinschauen muss, die kommt gar nicht vor im Urteil. Stattdessen finden sich also auch tatsächlich, ich würde mal sagen, bizarre Aussagen, etwa wenn es da im Urteil heißt: Die Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Ich glaub, das ist wirklich grober Unsinn. Denn auch ein beschnittenes Kind, also ein Junge, der diese Zirkumzision erlebt hat, kann natürlich dann nicht daran gehindert werden, später über seine Religionszugehörigkeit frei zu entscheiden, sich etwa vom Judentum, vom Islam zu distanzieren. Das gehört zur Religionsfreiheit dazu, ist übrigens ganz wichtig, weil da international noch heftige Widerstände auch gelegentlich geschehen. Das muss man klarstellen: Das Recht auch auf Religionswechsel gehört zur Religionsfreiheit dazu, aber das ist hier nicht beeinträchtigt. Also, mir scheint, dass das Landgericht die Frage der Religionsfreiheit völlig unangemessen, nämlich überhaupt nicht mit Sensibilität für das, was da auf dem Spiel steht auch für viele Menschen, behandelt und deshalb auch keine angemessene Abwägung durchführt.
von Billerbeck: Aber wäre es nicht besser, wenn man auch über die Beschneidung und die Entscheidung für eine Religion eben erst entscheidet, wenn man dazu selbst in der Lage ist als Betroffener, also als das Kind, das dann Jugendlicher möglicherweise ist? Denn ich habe gestern gelernt vom Strafrechtler Holm Putzke, der das ja juristisch vorgearbeitet hat, dieses Urteil, und sich seit Jahren damit beschäftigt, dass es im Islam gar nicht steht, dass man so früh beschnitten werden muss, wie das in dem Fall ja ein Vierjähriger war.
Bielefeldt: Nun gut, es ist nicht Aufgabe von Juristen und es ist auch nicht Aufgabe von Menschenrechtlern, jetzt sozusagen die religiösen Quellen zu identifizieren …
von Billerbeck: … aber Sie sind ja auch Theologe …
Bielefeldt: … das ist übrigens gar nicht meine Hauptprofession, ich bin, vom Fach her komme ich aus der Philosophie, habe hier den Lehrstuhl für Menschenrechte, das nur nebenbei gesagt. Und die UNO-Funktion hat nichts mit Theologie zu tun, es geht um Menschenrechte und in meinem Fall das Menschenrecht der Religionsfreiheit. Entscheidend ist die Überzeugung der Menschen. Das heißt, sie müssen selber die religiösen Quellen interpretieren, das ist nicht Aufgabe von Juristen, auch nicht Aufgabe von Menschenrechtlern, also auch nicht meine Aufgabe im engeren Sinne, sondern ich stelle fest: Hier geht es wirklich um Grundüberzeugungen der Menschen, die Respekt verdienen. Heißt natürlich nicht, dass das ein Freibrief für alles ist! Auch Elternrecht findet Grenzen, auch Religionsrecht findet Grenzen, auch die Religionsfreiheit findet Grenzen …
von Billerbeck: … wo liegen diese Eltern…, die Grenzen für das Elternrecht?
Bielefeldt: Die Grenzen für das Elternrecht liegen da, wenn es darum geht, Lebensmöglichkeiten von Kindern eindeutig und irreversibel zu strangulieren sozusagen. Und deshalb ist es ja sozusagen ein Thema, wo man hinschauen muss, ich sage ja nicht, dass es sozusagen absurd ist, überhaupt die Frage zu stellen. Mir scheint aber die Antwort falsch zu sein, nämlich eine Antwort, bei der im Urteil des Landgerichts Köln die Religionsfreiheit überhaupt nicht angemessen vorkommt. Und die medizinische Seite des Themas, also, wie weit bedeutet dies dann wirklich eine dauerhafte Schädigung, die wird ja nun auch diskutiert. Da bin ich nun kein Fachmann, kann aber immerhin darauf verweisen, dass die Weltgesundheitsorganisation da keine schwerwiegenden Folgen sieht. Und deshalb muss man sozusagen bei der Abwägung dann doch, glaube ich, zu einem anderen Ergebnis kommen, als hier das Landgericht es gesagt hat.
von Billerbeck: Nun gibt es ja Zahlen, dass die Zahl der Beschneidungen seit beispielsweise den 80er-Jahren zurückgegangen ist weltweit, auch in den USA, wo also, ich glaube, ein Drittel der Jungen beschnitten sind. Nun könnte man ja fragen, ob dieses Urteil – so vielleicht unklug formuliert, wie Sie es ja auch empfinden, es ist – nicht auch zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung führen könnte über das Thema Jungenbeschneidung innerhalb der Religionsgemeinschaften?
Bielefeldt: Also, Auseinandersetzung ist immer gut, Religionsgemeinschaften müssen sich Fragen gefallen lassen, auch kritische Anfragen gefallen lassen. Es ist immer gut, wenn es interne Debatten gibt. Es gibt ja auch Fälle, wo eben Eltern ganz bewusst eine solche Entscheidung aufschieben und sagen, das Kind soll selber machen. Das ist alles sicher sinnvoll, wenn man darüber debattiert. Wir haben ja allerdings ja nicht nur einen Debattenanstoß, sondern wir haben hier ein Urteil, das eine ganz weit verbreitete Praxis, die für viele Menschen, für viele Familien, jüdische Familien, muslimische Familien selbstverständlich ist, an der sie hängen, für rechtswidrig erklärt! Das muss man sich einmal klarmachen, das ist nicht einfach nur eine Debatte, sondern das Urteil eines Gerichtshofs – es geht ja um ein Strafurteil –, bei dem der konkret betroffene Arzt zwar freigesprochen worden ist, aber sozusagen das Unwerturteil, die Diagnose der Rechtswidrigkeit, erst einmal im Raum steht. Das ist jetzt ganz wichtig, dass wir Rechtsklarheit kriegen, sonst ist nämlich zu befürchten, dass solche Praktiken in die Illegalität gedrängt werden. Und das würde für das Kindeswohl im Übrigen also auch eine ganze Menge neue Risiken und Belastungen bedeuten. Also, wir brauchen Rechtsklarheit. Debattieren kann man über vieles, das Urteil des Landgerichts in Köln schafft für mich keine vernünftige Grundlage für eine Rechtsklarheit.
von Billerbeck: Das sagt Heiner Bielefeldt, beim UN-Menschenrechtsrat Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit (*). Ich danke Ihnen!
Bielefeldt: Danke schön auch!
(*)Korrekt ist die Bezeichnung: Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungssfreiheit des UN-Menschenrechtsrats
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heiner Bielefeldt: Ja, guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Die Beschneidung von Jungen, so wie sie im Judentum sowie im Islam traditionell vorgenommen wird, sei Körperverletzung, also eine Straftat. Das hat das Landgericht Köln entschieden und damit eine heftige Debatte ausgelöst über das Verhältnis von Religionsfreiheit und Menschenrechten. Nun sind Rituale für Religionen identitätsstiftend, dennoch: Wäre es nicht an der Zeit, sich von bestimmten Ritualen im Interesse der Menschenrechte zu verabschieden?
Bielefeldt: Nun, zunächst einmal gehört es selber zu den Menschenrechten, dass Menschen ihre Religionszugehörigkeit dokumentieren. Es geht ja nicht nur um den inneren Glauben, es geht auch um Glaubensgemeinschaft, es geht auch um rituelle Praxis. Das ist garantiert im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und schließt übrigens auch das Elternrecht ein, zunächst einmal sozusagen über die Religionszugehörigkeit von Kindern zu entscheiden, also auch Kinder religiös zu erziehen, religiös zu sozialisieren. Also, wir haben hier selber einen Menschenrechtsanspruch, der dann in der Tat abgewogen werden muss, wenn es einen Konflikt gibt mit möglicherweise anderen Ansprüchen, hier dem Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Mir scheint, dass das Landgericht Köln diese Abwägung in nicht überzeugender Weise geleistet hat, die Religionsfreiheit kommt da viel zu kurz darin.
von Billerbeck: Nun sagen Sie, das Elternrecht ist auch ein Menschenrecht, zunächst über die Religion der Kinder zu entscheiden.
Bielefeldt: Ja.
von Billerbeck: Aber die Beschneidung ist doch etwas, was diese Kinder nicht mehr rückgängig machen können!
Bielefeldt: Das ist wahr, das ist wahr. Und deshalb ist natürlich das Thema auch nicht zu leicht zu nehmen. Die UNO hat sich mit diesem Thema öfter beschäftigt, also etwa der Kinderrechtsausschuss. Aber interessant ist das Ergebnis: Also, auch in der Auseinandersetzung mit Praktiken in verschiedenen Ländern kommt der Kinderrechtsausschuss der UNO immer wieder dazu, zu sagen, bestimmte Bedingungen – etwa unhygienische, gefährliche Bedingungen, die müssen abgestellt werden, es gibt aber keine einzige Entscheidung des UNO-Kinderrechtsausschusses, die besagt, die Praxis als solche ist gegen die Kinderrechtskonvention, die Praxis als solche wäre dann auch menschenrechtswidrig. Diese Entscheidung gibt es nicht. Übrigens völlig anders – damit das gleich mal gesagt ist – als die Praxis der sogenannten Mädchenbeschneidung, da muss man ja regelrecht von Amputation reden! Der Begriff, der hat sich auch durchgesetzt, das ist ja Geschlechtsverstümmelung, das ist in der Tat eine andere Praxis. Der Kinderrechtsausschuss hat die männliche Zirkumzision, also, das heißt, die Entfernung der Vorhaut, wenn sie unter entsprechenden Bedingungen durchgeführt wird, bislang nicht als Verletzung thematisiert. Aber man muss es, man sollte es nicht zu leicht nehmen. Also, wir haben ja in der Tat sozusagen ein Thema, bei dem auch ein Stück Aufmerksamkeit geboten ist.
von Billerbeck: Nun gab es heftige Reaktionen, Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden, hat das Urteil einen unerhörten und unsensiblen Akt genannt, aus mehreren muslimischen Verbänden kommt ebenso heftige Kritik. Wie bewerten Sie die Empörung innerhalb der jüdischen und muslimischen Community in Deutschland?
Bielefeldt: Ja, also, die Empörung kann ich gut verstehen. Die ist ja übrigens auch von christlichen Kirchen zum Teil geteilt worden. Und zwar, das ist eben wirklich ein Problem, das im Urteilstext unangemessen angesprochen wird: Die Religionsfreiheit, die Bedeutung, auch die identitätsstiftende Bedeutung von religiösen Symbolen, auch von solchen Riten, bei denen man im Einzelfall dann in der Tat genauer hinschauen muss, die kommt gar nicht vor im Urteil. Stattdessen finden sich also auch tatsächlich, ich würde mal sagen, bizarre Aussagen, etwa wenn es da im Urteil heißt: Die Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Ich glaub, das ist wirklich grober Unsinn. Denn auch ein beschnittenes Kind, also ein Junge, der diese Zirkumzision erlebt hat, kann natürlich dann nicht daran gehindert werden, später über seine Religionszugehörigkeit frei zu entscheiden, sich etwa vom Judentum, vom Islam zu distanzieren. Das gehört zur Religionsfreiheit dazu, ist übrigens ganz wichtig, weil da international noch heftige Widerstände auch gelegentlich geschehen. Das muss man klarstellen: Das Recht auch auf Religionswechsel gehört zur Religionsfreiheit dazu, aber das ist hier nicht beeinträchtigt. Also, mir scheint, dass das Landgericht die Frage der Religionsfreiheit völlig unangemessen, nämlich überhaupt nicht mit Sensibilität für das, was da auf dem Spiel steht auch für viele Menschen, behandelt und deshalb auch keine angemessene Abwägung durchführt.
von Billerbeck: Aber wäre es nicht besser, wenn man auch über die Beschneidung und die Entscheidung für eine Religion eben erst entscheidet, wenn man dazu selbst in der Lage ist als Betroffener, also als das Kind, das dann Jugendlicher möglicherweise ist? Denn ich habe gestern gelernt vom Strafrechtler Holm Putzke, der das ja juristisch vorgearbeitet hat, dieses Urteil, und sich seit Jahren damit beschäftigt, dass es im Islam gar nicht steht, dass man so früh beschnitten werden muss, wie das in dem Fall ja ein Vierjähriger war.
Bielefeldt: Nun gut, es ist nicht Aufgabe von Juristen und es ist auch nicht Aufgabe von Menschenrechtlern, jetzt sozusagen die religiösen Quellen zu identifizieren …
von Billerbeck: … aber Sie sind ja auch Theologe …
Bielefeldt: … das ist übrigens gar nicht meine Hauptprofession, ich bin, vom Fach her komme ich aus der Philosophie, habe hier den Lehrstuhl für Menschenrechte, das nur nebenbei gesagt. Und die UNO-Funktion hat nichts mit Theologie zu tun, es geht um Menschenrechte und in meinem Fall das Menschenrecht der Religionsfreiheit. Entscheidend ist die Überzeugung der Menschen. Das heißt, sie müssen selber die religiösen Quellen interpretieren, das ist nicht Aufgabe von Juristen, auch nicht Aufgabe von Menschenrechtlern, also auch nicht meine Aufgabe im engeren Sinne, sondern ich stelle fest: Hier geht es wirklich um Grundüberzeugungen der Menschen, die Respekt verdienen. Heißt natürlich nicht, dass das ein Freibrief für alles ist! Auch Elternrecht findet Grenzen, auch Religionsrecht findet Grenzen, auch die Religionsfreiheit findet Grenzen …
von Billerbeck: … wo liegen diese Eltern…, die Grenzen für das Elternrecht?
Bielefeldt: Die Grenzen für das Elternrecht liegen da, wenn es darum geht, Lebensmöglichkeiten von Kindern eindeutig und irreversibel zu strangulieren sozusagen. Und deshalb ist es ja sozusagen ein Thema, wo man hinschauen muss, ich sage ja nicht, dass es sozusagen absurd ist, überhaupt die Frage zu stellen. Mir scheint aber die Antwort falsch zu sein, nämlich eine Antwort, bei der im Urteil des Landgerichts Köln die Religionsfreiheit überhaupt nicht angemessen vorkommt. Und die medizinische Seite des Themas, also, wie weit bedeutet dies dann wirklich eine dauerhafte Schädigung, die wird ja nun auch diskutiert. Da bin ich nun kein Fachmann, kann aber immerhin darauf verweisen, dass die Weltgesundheitsorganisation da keine schwerwiegenden Folgen sieht. Und deshalb muss man sozusagen bei der Abwägung dann doch, glaube ich, zu einem anderen Ergebnis kommen, als hier das Landgericht es gesagt hat.
von Billerbeck: Nun gibt es ja Zahlen, dass die Zahl der Beschneidungen seit beispielsweise den 80er-Jahren zurückgegangen ist weltweit, auch in den USA, wo also, ich glaube, ein Drittel der Jungen beschnitten sind. Nun könnte man ja fragen, ob dieses Urteil – so vielleicht unklug formuliert, wie Sie es ja auch empfinden, es ist – nicht auch zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung führen könnte über das Thema Jungenbeschneidung innerhalb der Religionsgemeinschaften?
Bielefeldt: Also, Auseinandersetzung ist immer gut, Religionsgemeinschaften müssen sich Fragen gefallen lassen, auch kritische Anfragen gefallen lassen. Es ist immer gut, wenn es interne Debatten gibt. Es gibt ja auch Fälle, wo eben Eltern ganz bewusst eine solche Entscheidung aufschieben und sagen, das Kind soll selber machen. Das ist alles sicher sinnvoll, wenn man darüber debattiert. Wir haben ja allerdings ja nicht nur einen Debattenanstoß, sondern wir haben hier ein Urteil, das eine ganz weit verbreitete Praxis, die für viele Menschen, für viele Familien, jüdische Familien, muslimische Familien selbstverständlich ist, an der sie hängen, für rechtswidrig erklärt! Das muss man sich einmal klarmachen, das ist nicht einfach nur eine Debatte, sondern das Urteil eines Gerichtshofs – es geht ja um ein Strafurteil –, bei dem der konkret betroffene Arzt zwar freigesprochen worden ist, aber sozusagen das Unwerturteil, die Diagnose der Rechtswidrigkeit, erst einmal im Raum steht. Das ist jetzt ganz wichtig, dass wir Rechtsklarheit kriegen, sonst ist nämlich zu befürchten, dass solche Praktiken in die Illegalität gedrängt werden. Und das würde für das Kindeswohl im Übrigen also auch eine ganze Menge neue Risiken und Belastungen bedeuten. Also, wir brauchen Rechtsklarheit. Debattieren kann man über vieles, das Urteil des Landgerichts in Köln schafft für mich keine vernünftige Grundlage für eine Rechtsklarheit.
von Billerbeck: Das sagt Heiner Bielefeldt, beim UN-Menschenrechtsrat Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit (*). Ich danke Ihnen!
Bielefeldt: Danke schön auch!
(*)Korrekt ist die Bezeichnung: Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungssfreiheit des UN-Menschenrechtsrats
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.