Ein neues "nervöses Zeitalter"
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In der Überforderung vieler Menschen angesichts der Digitalisierung sieht der Historiker Oliver Rathkolb den zentralen Grund für die Sehnsucht nach einem autoritären Politikstil. Boris Johnson und Donald Trump seien deshalb erfolgreich.
Mit großen Worten haben heute autoritäre Politiker in vielen Ländern Erfolg, nicht nur in den USA und Großbritannien. Wenig überrascht über den Amtsantritt des neuen britischen Premierministers Boris Johnson zeigt sich deshalb der Historiker Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Er habe auch schon Wochen vor dem Wahlsieg von US-Präsident Donald Trump damit gerechnet, dass er gewinnen werde, sagte Rathkolb im Deutschlandfunk Kultur. "Emotionalisierte Botschaften, Renationalismus und den Versuch, einen starken Führer zu mimen, der alle Probleme der Globalisierung meistert", beschrieb der Historiker den Politikstil der beiden Machthaber, der einem Zeitgeist entspreche und bei Wählern und Wählerinnen bestens ankomme.
Vergleich mit 1914
Die Sehnsucht nach diesem Politikertypus hänge damit zusammen, dass viele Menschen von den Veränderungen durch die "digitale Revolution" stark überlastet seien. Dies werde oft unter dem Stichwort "Globalisierung" zusammen gefasst. Rathkolb verglich das Phänomen mit der Stimmung 1914 vor dem Ersten Weltkrieg. "In einem neuen nervösen Zeitalter der Gegenwart kommen solche autoritären Botschaften sehr gut an und vor allem bei apathischen Wählern", sagte er. Sie hätten bereits mit der Politik abgeschlossen. "Sie haben keine Zukunft, sie haben keine Hoffnung, aber sie bekommen eine Hoffnung, die sehr stark immer mit einem Feindbild verbunden ist."
Wie im 19. Jahrhundert gebe es außerdem so etwas wie eine Neuerfindung der Nation, die 1914 zu einer totalen Katastrophe geführt habe.
Witzfiguren der Politik
Johnson und Trump seien eigentlich nüchtern betrachtet Witzfiguren, sagte Rathkolb. "Ein Politikertyp, der vor 20 Jahren nicht einmal in die Regionalliga gekommen wäre." Aber sie erregten heute Öffentlichkeit und gäben vielen Menschen das Gefühl, die Männer zu sein, die aus der Krise in die Zukunft führen könnten. Der Historiker empfiehlt, dass eine stärkere Fokussierung auf soziale Themen und die Auseinandersetzung mit Migrationsfragen Möglichkeiten seien, um aus dieser politischen Phase wieder herauszukommen.
(gem)