Der Historiker Peter Brandt ist der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt. Er wurde 1948 in Berlin geboren. Brandt studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der FU Berlin und schloss sich den damaligen Studentenprotesten an. Nach seinem Studium blieb Brandt in der Forschung, 1990 wurde er Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität in Hagen. Seine Schwerpunkte sind die Themen Nationalismus, europäische Verfassungsgeschichte, die Arbeiterbewegung und die Deutsche Frage seit 1945. 2014 ging er in den Ruhestand.
"Die Sozialdemokratie hat ihren Standort verloren"
Martin Schulz kam, sah und wollte siegen. Aber er verlor. Und noch schlimmer: Seine Partei läuft nach wie vor an Krücken. Peter Brandt, Sohn des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, macht sich Gedanken, wie der alten Tante SPD wieder aufzuhelfen ist. Verzichtbar findet er sie auf keinen Fall.
Dieter Kassel: Die Sozialdemokratie ist in der Krise fast überall in Europa. In Frankreich, in den Niederlanden, in Spanien, in Österreich und natürlich auch in Deutschland, wobei es da Unterschiede gibt. Im Vergleich zu den Niederlanden war das Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl in Deutschland gar nicht so schlecht, aber natürlich mehr als schlimm genug.
Schlimm genug auch, um mit dem Historiker Peter Brandt zu sprechen. Er ist selbst Sozialdemokrat, auch im parteipolitischen Sinne, er ist SPD-Mitglied, der älteste Sohn von Willy Brandt, und hat sich schon im Sommer vor der Bundestagswahl zusammen mit Antje Vollmer in einem Gastbeitrag für eine Tageszeitung große Gedanken gemacht über die Zukunft der SPD. Schönen guten Morgen, Herr Brandt!
Peter Brandt: Guten Morgen!
Kassel: Herr Brandt, ich habe mir bei der Zeitungslektüre so kurz vor der Bundestagswahl mal irgendwann am Frühstückstisch selber die Frage gestellt, brauchen wir in Deutschland eigentlich noch eine sozialdemokratische Partei? Und wenn ich ehrlich bin, mir ist keine Begründung für die Antwort "Ja" eingefallen.
Brandt: Man spricht ja gern von der Sozialdemokratisierung der CDU. Wenn man näher hinguckt, dann betrifft das mehr die, wie man auch sagt, weichen Themen. Ich sage mal Stichwort Ehe für alle. Ein gewisser Politikstil der Bundeskanzlerin. Aber ich denke mal, wenn wir über die soziale Frage sprechen, dann ist die Sozialdemokratie nötiger denn je.
Die Sozialdemokratie hat sich dem Mainstream gebeugt
Das sind die beiden Positionen, die es gibt, die einen, die sagen, sie sind eigentlich überflüssig, weil alles erreicht ist. Die anderen sagen, sie hat den Übergang in den 70er-, 80er-Jahren zu dem, was auch Neoliberalismus genannt wird, also der marktentgrenzenden Globalisierung, hat sich da eigentlich an den Mainstream angepasst.
Das sind sozusagen diese beiden Interpretationsmöglichkeiten, und ich würde die letzte befürworten. Also nicht als irgendeinen Schurkenstreich, sondern die Sozialdemokratie hat in der Tat in den letzten Jahrzehnten, kann man schon sagen, ihren Standort verloren.
Kassel: Aber ich würde gar nicht sagen, Herr Brandt, dass sich die soziale Frage beantwortet hat, der Meinung bin ich nicht. Aber ich frage mich ganz schlicht, was hat denn die SPD denn noch zu bieten, was nicht die Grünen und die Partei Die Linke auch bieten?
Brandt: Na ja, die SPD ist von ihrer Tradition her eben eine Partei, die in den breiten Schichten des arbeitenden Volkes verankert ist. Das ist bei den Grünen nun mit Sicherheit nicht der Fall.
Wir können fast sagen, was ja den Leuten nicht vorzuwerfen ist, aber: Die Grünen sprechen eher eine Klientel an, wo sie unter anderem auch mit der FDP konkurrieren, vom Sozialstatus her.
Die Linkspartei hat bei der letzten Wahl, ebenso übrigens wie die Sozialdemokratie, in erheblichem Maß verloren an die AfD, also das was die Linkspartei mal konnte, nämlich sozialen Protest artikulieren, wird für sie auch ein Problem. Sie hat das aufgefangen durch jüngere, eher akademische Gruppen, die dann dafür gestimmt haben.
Grüne und Linkspartei vertreten die Arbeiter nicht
Also diese Rolle, die breiten arbeitenden Schichten zu vertreten – es ist überhaupt nicht abzusehen, dass das die Grünen oder die Linkspartei wahrnehmen könnten.
Kassel: Aber wie will die SPD das in Zukunft wieder tun? Wie will sie sich einfach als Partei darstellen, die glaubhaft den Eindruck erweckt, wir sind für euch zuständig?
Brandt: Gut, ich bin ja nicht die SPD, sondern eines von vielen Mitgliedern. Die Partei hat immer ein gewisses Spektrum gehabt. Die Frage ist, ob sie es schafft, sich wieder als politische Alternative darzustellen.
Das hat man festgemacht an der Frage der großen Koalition. Das ist aber jetzt eigentlich nicht die Kernfrage. Es ist eine Teilantwort, warum sie nicht mehr wahrgenommen worden ist als eigene politische Formation.
Im Kern geht es in der Tat darum, welche Funktion die Sozialdemokratie im gesamten Parteienspektrum einnehmen kann. Sie haben jetzt die Niederlande als Negativbeispiel angeführt. Ich könnte jetzt auf Großbritannien verweisen, wo Jeremy Corbyn, also ohne das jetzt eins zu eins übertragen zu wollen, als er die Parteiführung übernahm, waren die meisten Ihrer Kollegen der Meinung, jetzt wird er die Labour-Party endgültig zugrunde richten.
Corbyn beweist: Es gibt auch Spielraum nach oben
Und er hat zwar die letzte Unterhauswahl nicht gewonnen, aber er hat mächtig dazugewonnen an Stimmen, und die Tendenz geht dahin, dass da noch Spielraum ist nach oben. Also es ist kein Naturgesetz, dass Sozialdemokratie nun immer weiter nach unten tendiert. Die Frage ist, ob das als ein eigenes politisches Angebot wahrgenommen wird, und das kann ich nicht für die Partei beantworten. Ich kann nur meine Meinung dazu sagen, dass das offenbar nicht gelungen ist.
Kassel: Sagt Peter Brandt, Mitglied, wenn auch nicht parteipolitisch aktives Mitglied der SPD und Historiker. Herr Brandt, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Brandt: Wiederhören!
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