Historiker plädiert für Rückbesinnung auf alte Tugenden

Julius Schoeps im Gespräch mit Ulrike Timm |
Das, woran sich unsere Vorväter orientiert haben, habe auch für die heutige Zeit noch eine Funktion, sagt Julius Schoeps, Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Er bedauert den Missbrauch der "preußischen Tugenden" während der NS-Zeit.
Ulrike Timm: "Ich bin der erste Diener meines Staates", sagte Friedrich der Große, modernisierte mit dieser Haltung den bettelarmen Provinzstaat Preußen und wird dafür in diesem Jahr kräftig gefeiert. Ganz unpreußisch beginnt man in Potsdam schon heute damit, knapp zwei Wochen vor seinem 300. Geburtstag. Die von der Aufklärung geprägten bürgerlichen Tugenden von Fleiß, Disziplin, Ordnung, Unbestechlichkeit, Toleranz und Pflichtbewusstsein verbinden sich mit seiner Regierungszeit und sind seitdem als preußische Tugenden bewundert, umstritten und gefürchtet, je nach Zeit und Perspektive. Wir wollen sie mal beleuchten, zusammen mit dem Historiker Julius Schoeps. Er ist Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Herzlich willkommen, Herr Schoeps!

Julius Schoeps: Guten Tag!

Timm: Wie waren denn diese Werte im Preußen Friedrichs des Großen tatsächlich verankert?

Schoeps: Verankert oder nicht verankert, das ist die Frage. Ich glaube, diese Debatte über die preußischen Tugenden, das ist erst eine spätere Zeit: Das 19. Jahrhundert, da hat man angefangen, darüber zu reden. Preußische Tugenden finde ich auch keinen so guten Begriff. Wir sollten reden von bürgerlichen Tugenden.

Timm: Aber er hat damit Staat gemacht.

Schoeps: Ja, ja, sicher, das ist schon richtig, aber auch das Bild Friedrichs bedarf ja auch einiger Korrekturen, nicht? So ein toleranter Herrscher war er nun wirklich nicht gewesen, wie immer wieder behauptet wird. Aber er hat sicher einiges getan, was den Staat betraf und das Verhältnis zu diesem Staat. Und diese Begrifflichkeiten - Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Sparsamkeit -, das ist schon von ihm und seinem Vorgänger geprägt. Das sind Begriffe, die von ihnen geprägt wurden, das ist schon richtig.

Timm: Er übernahm das Gedankengut der Aufklärung, blieb aber ein absoluter ...

Schoeps: ... Herrscher.

Timm: ... Monarch. Also jeder sollte nach seiner Fasson selig werden, aber gehorsam sein bitte auch. Wie modern war er denn tatsächlich?

Schoeps: Na ja. Also wenn gesagt wird, Friedrich war ein toleranter Herrscher, und dann wird immer wieder zitiert: "Es möge ein jeder nach seiner Fasson selig werden" - das stimmt nur zum Teil. Das bezog sich im Grunde immer auf die christlichen Religionen. Was die Juden beispielsweise betraf, war Friedrich ein Tyrann. Sein Judenedikt von 1750 war ganz mittelalterlich gewesen. Also auch hier bedarf es bestimmter Fragezeichen, sagen wir es mal so.

Timm: Trotzdem ließ er ja Religionsfreiheit offiziell gelten, zugleich knöpfte er den Juden, wenn ich es richtig weiß, Sondersteuern ab - also diese vielgerühmte Toleranz war auch Mittel zum wirtschaftlichen Zweck, Preußen war bettelarm.

Schoeps: Ja sicher. Das - sehen Sie, man kann tolerant sein und damit auch ganz bestimmte Forderungen verbinden. Nützlichkeitserwägung zum Beispiel, das muss sich nicht widersprechen. Er holte Juden beispielsweise ins Land und versprach sich davon Vorteile für den Staat. Dass es da mit der Toleranz nicht so weit her war, ist eine ganz andere Sache.

Timm: Zugleich war Preußen das arme Land, die Streusandbüchse, das Land der Rüben und Kartoffeln, also er hatte da auch nicht viel zu verteilen, und hat dann doch mithilfe dieser Tugenden einen Staat zum Blühen gebracht. Kann man das so sagen?

Schoeps: Das ist gar keine Frage, nicht? Also Preußen, das war ein armer Staat gewesen, nicht? Und die preußischen Könige - Friedrich angefangen - haben versucht, das Beste daraus zu machen. Und das ist ihnen zweifellos auch gelungen.

Timm: Ein Zeitgenosse von Friedrich dem Großen, der französische Schriftsteller Denis Diderot, der hat mal gesagt: Jede Tugend, jedes Laster hat seine Zeit und kommt auch mal aus der Mode. Sah man denn die effektiven, die ordentlichen, die pünktlichen und die pflichtversessenen Preußen schon zu ihrer eigenen Zeit gern mal schäl an?

Schoeps: Es ist ein Zerrbild, was da entstanden ist, insbesondere im 19. Jahrhundert und dann im 20. Jahrhundert, als die Nazis bestimmte "preußische Tugenden" übernommen haben. Aber dann wurde zum Beispiel aus Selbstbewusstsein Überheblichkeit, aus Ordnungsliebe kleinliche Pedanterie, und aus Pflichterfüllung pure Unmenschlichkeit. Also da ist etwas geschehen, da ist etwas verändert worden, und wenn man heute kritisch mit den sogenannten preußischen Tugenden umgeht, hat man immer im Kopf den KZ-Wärter.

Timm: Trotzdem fand ich es interessant, dass zum Beispiel der Satz "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" nicht aus der Zeit Friedrichs II. stammt, sondern der kam erst später, dieser Satz. Also es fing eigentlich gut an und ist dann nach und nach ausgeufert, hat sich verklemmt, verkleinert, ist enger geworden - wahrscheinlich hat es diese Entwicklung genommen, oder?

Schoeps: Ja. Sehen Sie, was im Anfang sehr wichtig war, dass zum Beispiel dieser berühmte Satz "Travailler pour le roi de Prusse", arbeiten für den König von Preußen - das sagten die Franzosen -, das hieß etwas um seiner selbst willen zu tun. Und das war etwas, was in Preußen durchaus zum Selbstverständnis der Menschen gehörte. Und das ist uns in heutiger Zeit ziemlich abhanden gekommen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Historiker Julius Schoeps über die preußischen Tugenden des alten Fritz. Herr Schoeps, Sie sagten eben etwas um seiner selbst Willen tun. Dieser Satz ist pervertiert wie kaum ein anderer - die Tugenden, die wir angesprochen haben, sind pervertiert im Dritten Reich, wo große und kleine NS-Schergen eben auf Disziplin und Pflichterfüllung stolz waren, auf ihren Zwang zum Gehorsam verwiesen. Fehlt diesen bürgerlichen Tugenden per se das Politische? Das Politische des Denkens, oder wie sonst ist das Möglich, dass man noch sich in Auschwitz auf sein Pflichtbewusstsein und seine Effektivität berief? Das ist ja passiert.

Schoeps: Na ja, also leider ist da hier etwas ins Rutschen geraten. Man spricht heute von sogenannten Sekundärtugenden - Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Sparsamkeit werden so genannt -, das scheint mir schon nicht ganz richtig zu sein. Es gab ja auch anderes Maßhalten: Bescheidenheit. Bescheidenheit wurde von einem Staatsdiener gefordert, oder Gewissenhaftigkeit. Das wird in der Regel dann vergessen. Es werden ganz bestimmte Begrifflichkeiten genannt - Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Sparsamkeit -, und die sind per se heute nicht unbedingt gut.

Timm: Trotzdem reiben wir uns ja bis heute dran. Also noch Jahrzehnte nach dem NS-Reich hat Oskar Lafontaine unglaublich viel Staub aufgewirbelt mit seinem Satz: Mit diesen Sekundärtugenden könne man auch ein KZ führen - was zweifellos stimmt. 82 war das - ich glaube, Helmut Schmidt hat ihm das nie verziehen, der hielt ja sehr auf Sekundärtugenden. Kann man denn diese bürgerlichen Werte gar nicht mehr denken, nicht mehr sehen ohne die Folgen, die sie eben in der Nazizeit hatten?

Schoeps: Nein, das ist unsinnig, solche Behauptungen, nicht? Aber sehen Sie, wenn Sie sich das Grundgesetz ansehen, Artikel 33, da heißt es, da wird gefordert uneigennützige Hingabe an den Dienst, ein hohes Maß an Nüchternheit und Sachlichkeit in der Urteilsbildung, eine gewissenhafte Pflichterfüllung, und - jetzt der letzte Satz, der dauernd in der Diskussion leider nicht genannt wird, gegenwärtig um den Bundespräsidenten - absolute Unbestechlichkeit. Das steht im Grundgesetz.

Timm: Das klingt, als würden Ihnen die Tugenden manchmal heute fehlen.

Schoeps: Die Tugenden sind vorhanden, sie werden festgehalten, sogar in der Verfassung, aber man hält sich nicht dran.

Timm: Aber wie kann man das denn erreichen, dass solche Tugenden als solche gesehen, gelebt werden können, ohne dass sie eng werden, ohne dass aus sparsam geizig wird, aus effektiv ein Röhrendenken, was keine anderen Meinungen mehr zulässt - wie kann man das am besten erreichen?

Schoeps: Man muss darüber reden. Man muss darüber diskutieren, man muss eine Vorstellung haben von diesen Tugenden. Sie haben völlig recht, wenn aus Sparsamkeit dann in der Werbung "Geiz ist geil" wird, na, dann stimmt etwas nicht.

Timm: Aber inwiefern prägen uns diese Gedanken, die wir in der Nazizeit erlebt haben, dass jemand sich noch im größten Gräuel in Auschwitz drauf berufen hat, ich war ordentlich, ich war pflichtbewusst, ich war gehorsam? Das färbt ja, dafür kann Friedrich II. nichts, aber das färbt diese Werte ja bis heute, belastet ... ist es bis heute ein Schatten?

Schoeps: Die Tugenden können ja nichts für Auschwitz und die Konzentrationslager. Die sind missbraucht worden, das muss man immer wieder deutlich sagen. Und sicher, manches passt heute vielleicht nicht mehr in die Zeit, aber ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Tugenden braucht.

Timm: Höre ich aus unserem Gespräch ein großes Plädoyer zum 300. Geburtstag Friedrich II. von den Tugenden, die er in die Welt setzte, und die vielleicht auch etwas unbequem sind, mehr Gebrauch zu machen?

Schoeps: Ja, ich würde schon sagen, wir sollten uns mehr um unsere Geschichte kümmern, wo wir herkommen, wie unsere Väter und Vorväter, wie sie sich orientiert haben. Und nicht alles gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Manches hat auch eine Funktion für unsere Zeit.

Timm: Der Historiker Julius Schoeps. Er ist Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier im Studio von Deutschlandradio Kultur.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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